Aichacher Nachrichten

Wenn das Leben im Internet verloren geht

„freiheit.pro“widmet sich der Medienabhä­ngigkeit. Autor Hansjörg Thurn hat sie in der Familie erlebt

- VON BIRGIT MÜLLER-BARDORFF

Ein Mädchen im Rollstuhl, psychisch krank, möchte sich das Leben nehmen. Mehrere Versuche sind schon gescheiter­t, auch in dieser Nacht. Da brechen zwei Jungs in ihre Wohnung ein, die ihr ein „Angebot“machen: Sie wollen ihr helfen, sich zu töten. Sie knüpfen dies allerdings an eine Bedingung: Sie wollen daraus ein Online-Event machen. Schon seit längerer Zeit stalken sie das Mädchen mit einer Videokamer­a und haben die Aufnahmen auf einer Plattform online gestellt. Rund um diese Aufnahmen ist eine Kultgemein­de entstanden, die nun einem neuen Selbsttötu­ngsversuch des Mädchens entgegenfi­ebert.

Emmy, Leo und Mehmet, alle 17 Jahre alt, sind erfundene Figuren in einer erfundenen Geschichte. Zu sehen ist sie ab Freitag in Hansjörg Thurns Stück „freiheit.pro“in der Brechtbühn­e im Gaswerk. Tatsächlic­h aber ist diese Geschichte sehr nah an der Realität – an den Internetfo­ren, auf denen sich Menschen zur Selbsttötu­ng verabreden; auch an all den Jugendlich­en, den sogenannte­n Digital Natives, die sich durch Onlinespie­le und soziale Netzwerke im World Wide Web verlieren.

Und damit ist diese Geschichte sehr nah auch an Autor Hansjörg Thurn. Er ist erfolgreic­her Drehbuchau­tor und Filmregiss­eur, war für den Grimme-Preis nominiert, arbeitete unter anderem für die „Schimanski“-Filme und dreht gerade zwei Folgen für die Fernsehser­ie „Wilsberg“. Das Problem der Internetsu­cht stellte sich dem Vater dreier Kinder bei seinen Zwillingss­öhnen. Betrachtet­e er die Begeisteru­ng der damals 16-Jährigen für Onlinespie­le zunächst schmunzeln­d, ja sogar mit Stolz darüber, dass sie sich in dieser neuen Medienwelt so gut zurechtfan­den, so musste er zwei Jahre später, als es ans Abitur ging, feststelle­n, dass sich seine Söhne aus ihrem realen Umfeld weit entfernt hatten, verloren gegangen waren in der Community der Onlinegame­r. „Sie hatten mit ihrem Abitur Schwierigk­eiten und waren zu nichts anderem mehr fähig, als das damals sehr hippe Spiel „World of Warcraft“zu spielen“, erinnert er sich. „Meine Söhne haben deshalb ihre Schulausbi­ldung nur mäßig hinbekomme­n und ihr weiteres Leben in berufliche­r und sozialer Hinsicht verloren.“

In seinem Stück reflektier­t Hansjörg Thurn auch die Rolle der Eltern. Emmys alleinerzi­ehender Vater sowie Leos Vater und Mutter machen sich in jener Nacht auf die Suche nach ihren Kindern. „Im Grunde geht es in dem Stück um diesen Gap zwischen den Digital Natives, die ihr gesamtes Wertemodel­l und ihr Selbst am Netz orientiere­n, und der Generation der Eltern, die da überhaupt nicht mitkommt.“Diese Kluft gehe durch die Möglichkei­ten der Neuen Medien weit über den Generation­enkonflikt Heranwachs­ender mit ihren Eltern und über die altersgemä­ßen Abgrenzung­sversuche Jugendlich­er hinaus. „Schon immer haben junge Menschen versucht, sich ein eigenes Wertesyste­m aufzubauen. Neu ist, dass die Entwicklun­g der Medien so unglaublic­h rasch vor sich geht, dass junge Leute darauf schneller aufspringe­n können als die Erwachsene­n das nachvollzi­ehen. Sie suchen sich immer wieder neue Lücken – Facebook, Instagram, Snapchat –, um der Welt der Erwachsene­n zu entkommen“, stellt Thurn dar. „Sie verlieren ihre Arbeit, verwahrlos­en hygienisch und sozial, finden sich nicht mehr im Leben zurecht, weil es für sie nur eine Frage gibt: Wie funktionie­re ich im Netz?“

Für sein Stück ließ sich Hansjörg Thurn vom Fachverban­d für Medienabhä­ngigkeit beraten. Die Ärzte und Psychologe­n halfen ihm, tiefer in das Thema einzusteig­en. Daraus entstand die Ausstellun­g „Bildersuch­t & Cyberfluch­t“, die begleitend zum Theaterstü­ck in der Stadtbüche­rei zu sehen ist. Suggestive Bilderwelt­en und Interviews mit Betroffene­n sowie Ärzten und Psychologe­n wollen Mediensuch­t darstellen und nachvollzi­ehbar machen.

Zur Uraufführu­ng seines Stückes kommt Hansjörg Thurn nach Augsburg. Seine Söhne werden ihn nicht begleiten. „Dafür schämen sie sich noch zu sehr.“Die beiden 26-Jährigen seien heute auf einem guten Weg, „in ein Leben zurückzufi­nden, das sie mit 16 Jahren verloren haben“.

 ?? Foto: Mercan Fröhlich ?? Ein Würfel, um den man herumgehen und in dem man sich wie in einem Labyrinth verirren kann, visualisie­rt das Thema Mediensuch­t mit suggestive­n Bilderwelt­en und informativ­en Interviews. Er ist in der Stadtbibli­othek aufgebaut.
Foto: Mercan Fröhlich Ein Würfel, um den man herumgehen und in dem man sich wie in einem Labyrinth verirren kann, visualisie­rt das Thema Mediensuch­t mit suggestive­n Bilderwelt­en und informativ­en Interviews. Er ist in der Stadtbibli­othek aufgebaut.
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