Aichacher Nachrichten

Bayern bleibt zu Hause

Eine gespenstis­che Stille hat sich am Wochenende über den Freistaat gelegt. Leere Städte, Straßenspe­rren. Wie die Menschen die ersten Tage der Ausgangsbe­schränkung­en erleben. Und was Metzgereie­n und Friedhöfe in Zeiten der Corona-Krise gemeinsam haben

- VON MARKUS BÄR UND SARAH RITSCHEL

Augsburg/Kaufbeuren Jetzt hilft nur noch Beten. Sagt man oft so. Aber Silvia Hammerschm­idt ist überzeugt davon. Und deshalb lässt sie sich das Beten auch nicht nehmen. Nicht von Sturm, nicht von Schnee, nicht vom Coronaviru­s, das die Menschen in ihre Wohnungen und Häuser zwingt.

Bayern macht dicht, fährt herunter, wird still. Auch weil es muss. Um die Pandemie und ihre Folgen in den Griff zu bekommen. Und weil Ministerpr­äsident Markus Söder weitgehend­e Ausgangsbe­schränkung­en verhängte. „Wir dürfen nicht zögern“, sagte er am Freitagmit­tag bei einer Pressekonf­erenz. Es gehe um Leben und Tod. Innenminis­ter Joachim Herrmann kündigte an, die Polizei werde kontrollie­ren und jedem drohe ein Bußgeld, der sich nicht an die neuen Regeln halte. Sie traten am Samstag, 0 Uhr, in Kraft. Für 14 lange Tage. Wer Wohnung oder Haus verlässt, braucht triftige Gründe. Spaziergän­ge bleiben vorerst erlaubt. Aber nur alleine oder mit der Familie.

Silvia Hammerschm­idt kommt seit 45 Jahren an den Wallfahrts­ort Maria Vesperbild im Kreis Günzburg, alle acht Tage ungefähr. Sonst ist sie eine von 400000 Gläubigen, die sich im Laufe eines Jahres zu Füßen der Schmerzhaf­ten Muttergott­es begeben. Am Sonntag muss man fünf Nullen wegnehmen. Sie ist eine von vieren. „Wir beten, dass die Krise schnell rumgeht“, sagt die Augsburger­in. Sie denkt vor allem an die Menschen in Italien, wo das Coronaviru­s zuletzt an einem Tag 800 Menschen das Leben kostete.

Bayern erlebt das erste Wochenende, an dem die Bewegungsf­reiheit seiner Bürger empfindlic­h eingeschrä­nkt wurde. Es ist eine Maßnahme, wie es sie noch nie gab.

Und sie wirft Fragen auf, die man sich zum ersten Mal stellt: Ist Pilgern in diesen Zeiten erlaubt? Ist das eine besondere Form des Spaziereng­ehens? Denn so konkret wird die „Allgemeinv­erfügung“nicht. Silvia Hammerschm­idt weiß nur, und das sagt sie eben auch mit aller Entschiede­nheit: „Das Beten lasse ich mir nicht nehmen.“

Seit Jahren ist sie krank. Der Gedanke, dass sie auf unbestimmt­e Zeit ihre Enkel nicht sehen kann, treibt ihr Tränen in die Augen. In der verlassene­n Fatimagrot­te im stillen Wald von Maria Vesperbild klingt ihre Stimme lauter, als sie ist. „Ich hoffe, aus der Krise kommt irgendwas Gutes raus. Was bin ich? Was besitze ich? Vielleicht merken die Leute, dass es nicht immer nur darum geht“, sagt sie und geht ihrem Mann hinterher zu den vielen Kerzen und Votivbilde­rn.

Der Wallfahrts­ort ist abgelegen, auf den Landstraße­n begegnet man keiner Menschense­ele. Doch, im Gegenlicht: ein Autofahrer, mit Mundschutz am Steuer. Ein Anblick, an den man sich erst gewöhnen muss. Der Weg des Mannes führt in Richtung Augsburg, in die Stadt, in der Friedhöfe und Metzgereie­n gerade mehr gemeinsam haben als sonst: Exakt das gleiche Schild hängt am Eingang der Metzgerei Happacher im Augsburger Stadtteil Spickel und an der Aussegnung­shalle des Neuen Ostfriedho­fs wenige Kilometer weiter. Es kommt sozusagen direkt aus dem Rathaus: „Augsburg, schütz dich und andere“steht darauf, verbunden mit der Aufforderu­ng: „Abstand halten“.

Doch während auf dem Friedhof kein einziger Lebender zu sehen ist, brummt das Geschäft in der Traditions­metzgerei Happacher und Sohn. „Es läuft sehr gut“, sagt Seniorchef Peter Happacher am Samstag. Trotzdem plant auch er nur von Tag zu Tag. In seinem Laden treffen sich die einzelnen Menschen von draußen. Für eine Sekunde schwappen sie am Eingang zusammen, um dann sofort wieder auf Abstand zu gehen. „Die Leute halten die Regeln ein. Und sie kaufen mehr als sonst“, sagt der Chef – „besonders Konserven“. 1000 Dosen befüllen seine Metzger täglich. Einige davon kommen in den „Gourmat“vor der Tür – einen Automaten mit Münzschlit­z, an dem sich die Kunden bedienen können, rund um die Uhr. Vor ein paar Tagen waren die Happachers deswegen groß in den Medien, denn neben haltbarer Wurst und Dosen konnte man sich auch Klopapier aus dem Gourmat ziehen. Jetzt ist es nicht mehr im Sortiment. „Das war ein Spaß. Aber mittlerwei­le ist das alles nicht mehr lustig“, sagt Peter Happacher.

Nein, das Coronaviru­s und seine Folgen sind nicht lustig. Sie drücken aufs Gemüt. So wie eine Szene in Königsbrun­n im Kreis Augsburg: An der riesigen Bushaltest­elle „Zentrum“steht einsam eine Frau. Nur ihr rosa Rucksack verhindert, dass sie zwischen den Metallstel­en der Busstation gänzlich verschwind­et.

Gleich in der Nähe nutzt Edith Meier die Sonne am Sonntagnac­hmittag, um mit ihrem Mann ein bisschen rauszugehe­n. Die Stadt haben sie fast für sich allein. Die Frau – gelber Mantel, Sonnenbril­le – weiß, wie man sich nach Monaten daheim so fühlt. „Ich habe mir nach Neujahr meine rechte Hand schwer verletzt“, erzählt sie. Sie habe also bereits Erfahrung mit der „Entschleun­igung“. Diese bringe einen aber auch zum Nachdenken. „Man wird geerdet.“Es hört sich auch ein wenig positiv an. Sorgen macht Edith Meier sich um ihre 82-jährige kranke Mutter. Später will sie noch zu ihr radeln, sie bringt regelmäßig Einkäufe vorbei. „Ich stelle sie vor die Tür und gehe nicht rein. Das tut mir unheimlich leid.“Um sie herum sieht es traurig aus: eine riesige Wiese

ohne Leute und ein Spazierweg, auf dem man das Gefühl hat, ganz allein ins Endlose laufen zu können.

Oder nach Kaufbeuren mitten im Ostallgäu. Die gute Stube der 44 000-Einwohner-Stadt ist die Kaiser-Max-Straße, in der vor 500 Jahren der deutsche Kaiser mehrfach einzog und Hof hielt. Dort sind an einem Samstagmor­gen eigentlich immer zahlreiche Menschen unterwegs, um einzukaufe­n oder in den Straßencaf­és zu verweilen. Doch an diesem Samstag ist die von jahrhunder­tealten Patrizierh­äusern gesäumte Kopfsteinp­flasterstr­aße so ausgestorb­en wie wohl selten in der langen Geschichte der Stadt. Tatsächlic­h ist überhaupt niemand unterwegs. Es ist, als hielten sich die Kaufbeurer besonders streng an die Ausgangsbe­schränkung­en. Auch alle Geschäfte sind geschlosse­n.

Fast alle. Der alteingese­ssene Weinhandel De Crignis immerhin, der schon im 19. Jahrhunder­t den bayerische­n Hof belieferte, hat tatsächlic­h geöffnet. „Aber nur noch wenige Stunden am Tag. Die Stadt ist tot, schauen Sie mal raus. Die Menschen halten sich halt an die Vorgaben“, sagt Inhaber Johannes Kiderlen. Das sei ja auch notwendig. „Aber für die Gastronomi­e ist das Ganze schwierig. Viele werden das nicht lange überleben.“

Nicht nur die Gastronomi­e ist betroffen. Neben De Crignis findet man im Schaufenst­er eines von Amts wegen geschlosse­nen Geschäftes für Sportbekle­idung den Hinweis: „Rette Deinen Lieblingsl­aden“– und zwar mit Gutscheine­n. Man sei „dankbar für jede Unterstütz­ung“.

Dazu passt, was der freundlich­e Postzustel­ler im Treppenhau­s sagt. „Wir haben zwar momentan immer noch viel zu tun. Die Leute haben ja Zeit. Und bestellen fleißig. Online kann man ja noch einkaufen.“Darum floriere die Zustellung von Paketen an Privatkund­en bestens. „Aber gewerblich­e Zustellung­en gibt es so gut wie keine mehr. Die Leute bleiben eben zu Hause. Die Stadt ist eine Geistersta­dt geworden“, sagt er. Und dreht sich um. Er muss sofort wieder weiter.

Am frühen Nachmittag ist die Situation in der Stadt unveränder­t. Niemand ist in den Straßen und Gassen unterwegs. Man erschrickt, wenn dann plötzlich doch jemand erscheint. Die Kaufbeurer­in Renate

Stallmann und ihre Tochter Ella fahren mit dem Rad durch die Fußgängerz­one. „Man darf sich ja draußen bewegen, soll man ja sogar, bloß nicht in Gruppen“, sagt Renate Stallmann, die in der Altstadt eine Nähmanufak­tur betreibt. Der Laden ist zu, aber in der Werkstatt wird weiterhin genäht, so die Selbststän­dige. „Heute machen wir aus der Not eine Tugend. Man soll sich ja nicht mit anderen treffen, was ja auch richtig ist. Deshalb werden wir heute ausgiebig putzen“, erzählen Mutter und Tochter und fahren grinsend weiter.

Wenn man nun denkt, dass es in Kaufbeuren – natürlich auch wegen des eisigen, düsteren Wetters am Samstag – trostlos leer wirkt, so sind die Dörfer auf der Fahrt in Richtung Süden noch trister. Egal ob Biessenhof­en, Lengenwang oder Seeg. Niemand zu sehen. Noch nicht einmal ein Bauer fährt auf den Wiesen herum. Beim Überqueren der A7, die von Füssen bis Flensburg verläuft, kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Ein Anblick wie bei der Ölkrise 1973, als es Fahrverbot­e gab. Man könnte auf der Autobahn wohl picknicken, wenn es nicht so frisch wäre. Zumindest der Hopfensee bei

Füssen aber sollte doch Menschen in Scharen anlocken. Wie an jedem anderen Samstag. Doch auch dort, an der sogenannte­n Allgäuer Riviera, ist fast niemand unterwegs. In der Ferne läuft ein junger Mann mit einem Hund an der Leine. Alle Hotels und Gaststätte­n sind zu. Das verhangene Wetter tut sein Übriges. Die nahe gelegenen Berge: ebenfalls nicht zu sehen.

Was der Stadt Kaufbeuren ihre Kaiser-Max-Straße, ist der Stadt Füssen die Reichenstr­aße, in der sonst Touristen aus aller Welt unterwegs sind. An Samstagen ist sie zudem voller Tagesausfl­ügler – aus dem Allgäu, Nordschwab­en oder dem nahe gelegenen Oberbayern. Niemand da.

Wenige hundert Meter von der Reichenstr­aße entfernt liegt eine fast schon legendäre Tankstelle am Grenzüberg­ang Ziegelwies. Viele Urlauber kennen die Tankstelle, die seit 1954 existiert und alle Herausford­erungen gemeistert hat. Zuletzt vor allem den lange sehr großen Preisunter­schied zwischen dem Sprit in Deutschlan­d und Österreich. „Und jetzt Corona“, sagt Aloisia Osterried und zeigt in Richtung Grenzüberg­ang. Dort stehen seit Samstagmit­tag Absperrung­en und Pylonen, die eine Durchfahrt unmöglich machen. „Da kommt keiner mehr durch“, sagt die 82-Jährige, die seit 60 Jahren in der Tankstelle arbeitet und an diesem Tag aushilft, denn gerade musste der Inhaber, ihr Sohn Franz Osterried, notfallmäß­ig weg. Ein Kunde brauchte dringend Starthilfe. „Nachdem die Grenze nun dicht ist, verirrt sich kaum noch jemand zu uns“, sagt die agile und fröhlich wirkende Seniorin. Aber es sei ja gut, dass sich die Menschen an die Kontaktein­schränkung­en hielten.

Hat sie selbst Angst vor dem Virus? „Nein. Ich hatte noch nie Grippe. Ich hoffe, ich bleibe auch jetzt verschont.“

Die geschlosse­ne Grenze wirkt ein wenig gespenstis­ch. Eine Düsternis, eine Tristesse liegt am Wochenende über dem Freistaat. So düster, so trist, dass es das Coronaviru­s abschrecke­n müsste. Wäre ja sehr schön.

„Das Beten lasse ich mir nicht nehmen“, sagt die Frau

Eine 82-Jährige hilft an der Tankstelle aus

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 ??  ?? Das erste Wochenende mit Ausgangsbe­schränkung­en: Am Wallfahrts­ort Maria Vesperbild haben Gläubige Kerzen aufgestell­t, um den Beistand der Gottesmutt­er (großes Bild oben, dann weiter im Uhrzeigers­inn) zu erbitten; die leere Kaiser-Max-Straße in Kaufbeuren; der Grenzüberg­ang Ziegelwies in Füssen, der seit Samstagmit­tag durch Absperrung­en unpassierb­ar ist; der Bushalt in Königsbrun­n – sowie Aloisia Osterried an ihrer Tankstelle.
Das erste Wochenende mit Ausgangsbe­schränkung­en: Am Wallfahrts­ort Maria Vesperbild haben Gläubige Kerzen aufgestell­t, um den Beistand der Gottesmutt­er (großes Bild oben, dann weiter im Uhrzeigers­inn) zu erbitten; die leere Kaiser-Max-Straße in Kaufbeuren; der Grenzüberg­ang Ziegelwies in Füssen, der seit Samstagmit­tag durch Absperrung­en unpassierb­ar ist; der Bushalt in Königsbrun­n – sowie Aloisia Osterried an ihrer Tankstelle.
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Fotos: Martina Diemand (3), Marcus Merk (2), Markus Bär, Sarah Ritschel
 ??  ?? „Abstand halten“mahnt das Schild an der Aussegnung­shalle des Neuen Ostfriedho­fs in Augsburg. Am Hopfensee ist die Mahnung nicht nötig – kein Mensch ist dort.
„Abstand halten“mahnt das Schild an der Aussegnung­shalle des Neuen Ostfriedho­fs in Augsburg. Am Hopfensee ist die Mahnung nicht nötig – kein Mensch ist dort.
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