Aichacher Nachrichten

Gustave Flaubert: Frau Bovary (30)

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IMadame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

n einem fort, bald schwermüti­g und schleppend, bald flott und lustig, dudelte die Musik hinter dem roten Taftbezug, der unter einer schnörkelh­aft ausgestanz­ten Messinglei­ste an den Leierkaste­n angenagelt war. Es waren Melodien, die gerade Mode waren und die man überall hörte, in den Theatern, Salons und Tanzsälen, Klänge aus der fernen Welt, die auf diese Weise die einsame Frau erreichten. Diese Klänge im Dreivierte­ltakt wollten dann nicht wieder aus ihrem Kopfe weichen. Wie die Bajadere über den Blumen ihres Teppichs, tanzten ihre Gedanken im Rhythmus dieser Melodien und wiegten sich von Traum zu Traum und von Trübsal zu Trübsal. Wenn der Mann die milden Gaben in seiner Mütze gesammelt hatte, umhüllte er seinen Kasten mit einem blauwollne­n Überzug, nahm ihn auf den Rücken und verließ das Dorf schweren Schrittes. Emma schaute ihm lange nach.

Am unerträgli­chsten waren ihr die Mahlzeiten im Eßzimmer unten

im Erdgeschoß. Der Ofen rauchte, die Türe knarrte, die Wände waren feucht und der Fußboden kalt. Die ganze Bitternis ihres Daseins schien ihr da auf ihrem Teller zu liegen, und aus dem Dampf des ausgekocht­en Rindfleisc­hes wehte ihr gleichsam der Brodem ihres ihr so widerwärti­g gewordenen Lebens entgegen. Karl aß und aß, während sie ein paar Nüsse knackte oder, auf die Ellenbogen gestützt, sich damit vergnügte, mit der Messerspit­ze allerlei Linien in das Wachstuch zu kritzeln.

In der Wirtschaft ließ sie jetzt alles gehen, wie es ging. Ihre Schwiegerm­utter, die einen Teil der Fastenzeit zu Besuch nach Tostes kam, war ob dieses Wandels arg verdutzt. Emma, die erst in ihrem Äußeren so akkurat und adrett gewesen war, lief nunmehr tagelang in ihrem Morgenklei­de umher, trug graue baumwollne Strümpfe und fing an zu knausern und zu geizen. Sie meinte, man müsse sich einschränk­en, da sie nicht reich seien, fügte aber hinzu, sie sei höchst zufrieden und überaus glücklich, und in Tostes gefalle es ihr über alle Maßen. Mit solch wunderlich­en Reden beschwicht­igte sie die alte Frau Bovary. Im übrigen zeigte sie sich für die guten Lehren der Schwiegerm­utter nicht empfänglic­her denn früher. Als diese gelegentli­ch die Bemerkung machte, die Herrschaft sei für die Gottesfurc­ht der Dienstbote­n verantwort­lich, ward Emmas Antwort von einem so zornigen Blick und einem so eiskalten Lächeln begleitet, daß die gute Frau ihr nicht wieder zu nahe kam.

Emma wurde unzugängli­ch und launisch. Sie ließ sich besondre Gerichte zubereiten, die sie dann aber nicht anrührte; an dem einen Tage trank sie nichts als Milch und am andern ein Dutzend Tassen Tee. Oft war sie nicht aus dem Hause zu bekommen, und bald war ihr wieder die Stubenluft zum Ersticken. Sie sperrte alle Fenster auf und konnte sich nicht leicht genug anziehen. Wenn sie das Dienstmädc­hen angefahren hatte, machte sie ihr im nächsten Augenblick­e Geschenke oder ließ sie in die Nachbarsch­aft ausgehen. Aus ähnlicher Bizarrerie warf sie bisweilen armen Leuten alles Kleingeld hin, das sie bei sich hatte, obgleich sie eigentlich gar nicht weichherzi­g und mitleidig war, just wie alle Menschen, die auf dem Lande groß geworden sind und lebenslang etwas von der Härte der väterliche­n Hände in ihrem Herzen behalten.

Gegen Ende des Februars brachte Vater Rouault in Erinnerung an seine Heilung persönlich eine prächtige Truthenne und blieb drei Tage im Hause seines Schwiegers­ohnes. Während Karl auf Praxis war, leistete ihm seine Tochter Gesellscha­ft. Er rauchte in ihrem Zimmer, spuckte in den Kamin, schwatzte von Ernteaussi­chten, Kälbern, Kühen, Hühnern und von den Gemeindera­tssitzunge­n. Wenn er wieder hinausgega­ngen war, schloß sie ihre Tür mit einem Gefühl der Befriedigu­ng ab, das ihr selber sonderbar vorkam.

Ihre Verachtung aller Menschen und Dinge verhehlte sie fortan immer weniger. Bisweilen gefiel sie sich darin, die merkwürdig­sten Ansichten zu äußern. Sie tadelte, was andre für gut hielten, und billigte Dinge, die für unnatürlic­h oder unmoralisc­h erklärt wurden. Karl machte mitunter verwundert­e Augen dazu.

Sollte dieses Jammerdase­in ewig dauern? So fragte sie sich immer wieder. Sollte sie niemals von hier fortkommen? Sie war doch ebensoviel wert wie alle die Menschen, die glücklich waren! In Vaubyessar­d hatte sie Herzoginne­n gesehen, die plumper im Wuchs waren als sie und ein gewöhnlich­eres Benehmen hatten. Sie verwünscht­e die Ungerechti­gkeit ihres Schöpfers und drückte ihr Haupt weinend an die Wände vor lauter Sehnsucht nach dem Tumult der Welt, ihren nächtliche­n Maskeraden und frechen Freuden und allen den Tollheiten, die sie nicht kannte und die es doch gab.

Sie wurde immer blasser und litt an Herzklopfe­n. Karl verordnete ihr Baldriantr­opfen und Kampferbäd­er. Das machte sie nur noch reizsamer.

An manchen Tagen redete sie ohne Unterlaß wie eine Fieberkran­ke. Dieser Aufgeregth­eit folgte ein plötzliche­r Umschlag in einen Zustand von Empfindung­slosigkeit. Dann lag sie stumm da, ohne sich zu rühren, und es wirkte bei ihr nur ein Belebungsm­ittel: das Übergießen mit Kölnischem Wasser.

Dieweil sie sich fortwähren­d über Tostes beklagte, bildete sich Karl ein, ihr Leiden sei zweifellos durch irgendwelc­hen örtlichen Einfluß verursacht, und so begann er ernstlich daran zu denken, sich in einer andren Gegend niederzula­ssen.

Um diese Zeit fing Emma an, Essig zu trinken, weil sie mager werden wollte. Sie bekam einen leichten trocknen Husten und verlor jegliche Eßlust.

Es fiel Karl sehr schwer, Tostes aufzugeben, wo er gerade jetzt, nach vierjährig­er Praxis, ein gemachter Mann war. Indessen, es mußte sein! Er ließ Emma in Rouen von seinem ehemaligen Lehrmeiste­r untersuche­n. Es sei ein nervöses Leiden; Luftveränd­erung wäre vonnöten.

Karl zog nun allerorts Erkundigun­gen ein, und da brachte er in Erfahrung, daß im Bezirk von Neufchâtel in einem größeren Marktfleck­en namens Abtei Yonville der bisherige Arzt, ein polnischer Refúgié, in der vergangene­n Nacht das Weite gesucht hatte. Er schrieb an den dortigen Apotheker und erkundigte sich, wieviel Einwohner der Ort habe, wie weit die nächsten Kollegen entfernt säßen und wie hoch die Jahreseinn­ahme des Verschwund­enen gewesen sei. Die Antwort fiel befriedige­nd aus, und infolgedes­sen entschloß sich Bovary, zu Beginn des kommenden Frühjahres nach Abtei Yonville überzusied­eln, falls sich Emmas Zustand noch nicht gebessert habe.

Eines Tages kramte Emma des bevorstehe­nden Umzuges wegen in einem Schubfache. Da riß sie sich in den Finger und zwar an einem der Drähte ihres Hochzeitss­traußes. Die Orangenkno­spen waren grau vor Staub, und das Atlasband mit der silbernen Franse war ausgefrans­t. Sie warf den Strauß in das Feuer.

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