Helin Bölek starb im Hungerstreik
Bundeswehrexperten stellen der Regierungspolitik ein vernichtendes Zeugnis aus: Seit Generationen hätten sich die Bundesbürger nicht mehr so verwundbar gefühlt. Mit schuld sei ein systematischer Abbau der Krisenvorsorge
Berlin Keine Schutzausrüstung, eine gestörte Logistik, kaum Reserven: Aus der Corona-Krise sei eine schonungslose Bilanz zu ziehen, schreibt die Denkfabrik der Bundeswehr, GIDS. Das von der Bundeswehr und der Helmut-Schmidt-Universität betriebene Institut für Verteidigungsund Strategie-Studien stellt der Politik infolge der Corona-Pandemie ein vernichtendes Zeugnis aus, die Studienautoren deuten sogar Gesetzesverstöße angesichts der mangelhaften Krisenvorsorge an. „Seit Generationen haben sich die Menschen nicht mehr so verwundbar gefühlt“, schreiben die Autoren. Engpässe bei lebenswichtigen Gütern wie Medikamenten und Schutzausrüstung zeigten, wie abhängig Deutschland von globalen Lieferketten sei „und dies schon bei Produkten, die für eine weltweit bewunderte Industrienation kein Thema sein sollten“.
Ungeachtet der vor Corona günstigen deutschen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen decke die Krise immer deutlicher „das Fehlen substanzieller, eigentlich gesetzlich vorgeschriebener Ressourcen auf der Ebene der Kommunen und der Länder sowie den Mangel an strategischen Reserven bei Personal, Material und Infrastruktur beim Bund auf“, heißt es in dem Papier. In Zukunft müsse mehr auf die Zulieferer und auf Vorratshaltung geachtet werden. „Die Bewirtschaftung bestimmter Ressourcen, deren Bedeutung oft erst im Verlauf einer Krise deutlich wird, muss frühzeitiger erkannt und zentral gesteuert werden“, fordern die Experten.
Sie kritisieren den Abbau der Krisenvorsorge nach Ende des Kalten Krieges. Seit dem Aussetzen der Wehrpflicht verfüge auch die Bundeswehr über eine nur noch sehr geringe strategische Personaltiefe. Das gelte auch für zivile Hilfsorganisationen, die Jahrzehnte von den Zivildienstleistenden profitiert hätten. Zudem seien zahlreiche militärische Liegenschaften aufgelöst worden, die man nun gut hätte gebrauchen können. „Die Fixkosten zur Aufrechterhaltung einer strategischen Reserve, sei es bei Personal oder Material, könnten am Ende weit geausfallen als die unmittelbaren Kosten und vor allem die daraus resultierenden Folgekosten, die in einer Krise entstehen“, rechnen die Bundeswehrexperten vor. „Hier muss Deutschland dringend nachbessern.“Zur Aufarbeitung der Krise gehöre deshalb, das lasse sich schon jetzt sagen, „eine schonungslose Untersuchung der Frage, warum die Welt offensichtlich so blind in die Katastrophe gerutscht ist“. Vielleicht sei das Desaster auch „billigend in Kauf genommen worden“, schreiben die Experten.
Erwartet werden Verteilungskämpfe um staatliche Ressourcen, bei denen Bürger und Organisationen Ansprüche geltend machen: „Da der Begriff ,Sicherheit‘ für die meisten Menschen jetzt und wohl auch in absehbarer Zukunft fast ausschließlich mit gesundheitlicher, sozialer und wirtschaftlicher Sicherheit in Verbindung gebracht werden dürfte, werden alle Aspekte der miringer litärischen Sicherheit Deutschlands und Europas deutlich in den Hintergrund treten – und das wäre fatal.“
Erhebliche Erwartungen könne es aus der EU geben, besonders aus den „in den Abgrund blickenden Mitgliedsstaaten Italien und Spanien“, warnen die Experten. „Wenn Deutschland in der zweiten Jahreshälfte den Vorsitz der EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, wird Covid-19 vermutlich weiterhin das bestimmende Thema sein – und die
Erwartungen, insbesondere an Deutschland, dürften immens sein.“
Die Autoren der Denkfabrik erwarten allerdings auch als positiven Effekt, dass es angesichts der Corona-Krise in der internationalen Politik teils Entspannungssignale geben könnte. „Vermutlich hofft der Kreml auch, das angespannte Verhältnis zur Nato zu entkrampfen, vielleicht sogar eine Brücke zu bauen, die ein Lockern der Sanktionen einleiten könnte“, heißt es. „Überall auf der Welt ist die Sicherheitspolitik in Bewegung geraten und nicht für möglich geglaubte Dinge scheinen auf einmal machbar.“
In anderen Konflikten wirke die Corona-Pandemie allerdings wie ein Brandbeschleuniger, fürchten die Bundeswehrstrategen. So könne das Gewaltpotenzial vor allem in Krisenländern wachsen, wo es Flüchtlinge in großer Zahl gebe. Auch auf
„Desaster billigend in Kauf genommen“
autoritär verfasste Staaten wirke das Coronavirus wie ein „toxischer Beschleuniger“.
Das Institut nennt sieben Thesen und Handlungsempfehlungen: So eröffne die Corona-Pandemie vermutlich Chancen für die Außenund Sicherheitspolitik, „weil sich Handlungsräume zwischen den Akteuren ergeben, die vorher undenkbar waren“. Dem Thema des weltweiten Gesundheitsschutzes und der Frühwarnsysteme müsse generell mehr strategische Beachtung geschenkt werden. „Wir brauchen eine ehrliche Auseinandersetzung über Deutschlands strategische Reserven“, schreiben die Autoren. Auch das politisch mehrfach beerdigte Thema eines verpflichtenden Dienstjahres gehöre wieder auf die Tagesordnung. Gewarnt wird zudem, die Folgen der Pandemie für Elendsregionen der Welt zu unterschätzen. Das GIDS (German Institute for Defence and Strategic Studies) untersucht Probleme, die für die sicherheitspolitische Strategiefähigkeit Deutschlands bestimmend sind, und berät Politik und Militärführung.