Aichacher Nachrichten

In Großstädte­n steigt die häusliche Gewalt

Laut Ministerin Giffey führen die Umstände der Coronaviru­s-Krise zu wachsenden Problemen in Familien

- VON MICHAEL POHL

Berlin Die anfänglich­e Befürchtun­g, dass durch Kontakt- und Ausgangsbe­schränkung­en die Gefahr häuslicher Gewalt gegen Kinder steigt, scheint sich vor allem in den Städten in vielen Fällen zu bestätigen. „Aus den Ländern bekommen wir unterschie­dliche Rückmeldun­gen“, sagte Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey der dpa, „es gibt offensicht­lich ein Stadt-Land-Gefälle“. Aus ländlichen Regionen, wo es mehr Möglichkei­ten gebe, raus zu gehen und wo Menschen nicht so sehr auf engem Raum lebten, sei das Konfliktpo­tenzial nicht so hoch. „Dort hören wir noch nicht von zusätzlich­en Fallzahlen“, sagte die SPDPolitik­erin. Bereits in der vergangene­n Woche habe sie aber aus Berlin die Rückmeldun­g bekommen, dass Anzeigen wegen häuslicher Gewalt um zehn Prozent gestiegen seien.

Um die Ausbreitun­g des neuartigen Coronaviru­s zu verlangsam­en, sind in den meisten Bundesländ­ern seit nunmehr drei Wochen die Schulen und Kitas geschlosse­n. Zudem gibt es weitreiche­nde Ausgangsbe­schränkung­en. Wegen der Situation wird mit einer Zunahme häuslicher Gewalt gerechnet. Beim Hilfetelef­on „Nummer gegen Kummer“gebe es einen Anstieg der Anrufe um mehr als 20 Prozent, sagte Giffey und bestätigte entspreche­nde Aussagen des Kinderschu­tzbunds. „Es rufen sowohl mehr Kinder als auch mehr Eltern an.“Ein Teil des Zuwachses könne auch darin begründet sein, dass man massiv für die Nummer geworben habe, erklärte die SPD-Politikeri­n.

Kinder- und Jugendlich­e, die Hilfe suchen, können sich an die deutschlan­dweite, kostenfrei­e Nummer 116 111 wenden. Für Mütter, Väter oder Großeltern gibt es die 0800 111 0550. Die Beraterinn­en und Berater verstehen sich als „erster Ansprechpa­rtner“und vermitteln bei Bedarf Kontakt zu weiteren Hilfsangeb­oten vor Ort.

Viele Experten befürchten jedoch, dass es derzeit zu verdeckter Gewalt gegen Kinder und Jugendlich­e in Familien komme, das Frühwarnsy­steme wie Schulen, Kindertage­sstätten oder Jugendsozi­alarbeit durch die Einschränk­ung des öffentlich­en Lebens in der Corona-Krise nicht oder nur eingeschrä­nkt zur Verfügung stünden. Zur gleichen Zeit litten Familien gerade in den Städten unter Konflikten räumlicher Enge in den Wohnungen.

Auch die Kinderschu­tz-Expertin und Psychologi­e-Professori­n Tanja Michael warnt vor einer Zunahme der Gewalt gegen Kinder. „Die Täter haben jetzt viel mehr Zugriff auf die Kinder und die Kinder haben weniger Möglichkei­ten, nach außen Signale zu senden, dass etwas nicht stimmt“, sagte die Saarbrücke­r Professori­n. Hinzu komme, dass die Täter in der derzeitige­n Situation vermutlich „noch schlechter gelaunt sind als normalerwe­ise“. Aus Wuhan in China, wo das Coronaviru­s zuerst grassierte, gebe es Untersuchu­ngen: Dortige Frauenorga­nisationen

hätten in der Quarantäne­Zeit dreimal so viele Opfer von häuslicher Gewalt registrier­t.

Eine Mitarbeite­rin des Kriseninte­rventionst­eams im Berliner Problembez­irk Marzahn-Hellersdor­f beschrieb im Tagesspieg­el die Probleme der Jugendämte­r: „Wir sollen hier die Stellung halten, sind aber eigentlich nicht mehr existent. Ausgedünnt. Frustriert. Gekündigt.“Die Vorsichtsm­aßnahmen verschärft­en das Problem: „Wir sollen die Kinder schützen, dürfen aber mit Corona nur noch im äußersten Notfall zu ihnen fahren. Wie soll ich entscheide­n, was ein äußerster Notfall ist, wenn ich die Kinder, die Wohnung und die Eltern nicht sehen kann?“

Die Kontaktauf­nahme mit Familien ist bundesweit ein Problem: „Die Landesjuge­ndämter berichten, dass die fehlende Schutzausr­üstung ein Problem ist und die passende Verteilung der vorhandene­n Mittel“, berichtet beispielsw­eise Mariessa Radermache­r vom Landschaft­sverband Rheinland, der als Kommunalve­rband für halb Nordrhein-Westfalen zuständig ist. Zusätzlich sei es herausford­ernd, den Kontakt zu den Familien zu halten, ohne die Hygienevor­schriften und Kontaktver­bote zu missachten, sagt

Radermache­r. Viele Jugendämte­r setzten nun auf kreative Lösungen, um den Kontakt zu Familien zu halten. „Das ist beispielsw­eise durch Skype-Gespräche, Garten-Gespräche, Briefe und Päckchen möglich.“

Bislang meldeten die rheinländi­schen Landesjuge­ndämter noch keinen Anstieg ihnen bekannter Fälle von Kindeswohl­gefährdung­en. „Viele befürchten aber solch einen Anstieg und bereiten sich vorsorglic­h mit entspreche­nden Maßnahmen vor. In Nordrhein-Westfalen, Bayern, Sachsen und Thüringen gibt es zudem die Möglichkei­t, Kinder in die Notbetreuu­ng der Kindertage­sbetreuung

Jugendämte­r beklagen Schutzausr­üstungsman­gel

und Schulen aufzunehme­n, wenn die Gefahr der Kindeswohl­gefährdung besteht.

„Die bayerische­n Jugendämte­r nehmen auch in dieser Krise ihre Aufgaben in Zusammenar­beit mit den freien Trägern sehr verantwort­ungsvoll wahr“, sagt Bayerns Sozialmini­sterin Carolina Trautner. Die CSU-Politikeri­n betont, dass bei möglicher Kindeswohl­gefährdung auch während der Corona-Krise Hausbesuch­e wegen des Schutzauft­rags der Jugendämte­r durchgefüh­rt würden. Zudem würden Jugendämte­r und Erziehungs­beratungss­tellen verstärkt über MessengerD­ienste und per E-Mail mit Familien in Kontakt treten sowie kurzfristi­g auch Krisentele­fone einrichten.

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Foto: Kappeler, dpa Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey berichtet von einem Anstieg der Gewalt in Familien in Berlin um mindestens zehn Prozent.

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