Aichacher Nachrichten

Sängerin stirbt im Hungerstre­ik gegen Erdogan

Türkei 28-Jährige protestier­te über neun Monate gegen Repressali­en und Auftrittsv­erbote von bekannter Folkrock-Band

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Vor tausenden jubelnden Zuschauern sang Helin Bölek zu Lebzeiten mit der Grup Yorum: Die sozialkrit­ische Folkrock-Gruppe ist eine Institutio­n in der Türkei. Im Laufe der Jahrzehnte haben die Musiker von Grup Yorum stets gewechselt, aber die Linie blieb: sehr links und sehr kritisch. Seit vier Jahren darf die Gruppe in der Türkei nicht mehr auftreten, ihre Mitglieder wurden verhaftet und vor Gericht gestellt. Dagegen trat die Sängerin Bölek im vergangene­n Jahr in Hungerstre­ik – am Freitag starb sie im Alter von 28 Jahren.

Zur Beerdigung kam die Polizei am Wochenende mit Wasserwerf­ern und Tränengas: Die türkische Linke und der Staat stehen sich unversöhnl­ich gegenüber. Grup Yorum kennt in der Türkei jeder. Als die Band vor zehn Jahren ihr 25-jähriges Bestehen feierte, quetschten sich mehr als 50 000 Fans in ein Istanbuler Fußballsta­dion, um dabei zu sein. „Yorum“bedeutet Kommentar, und der Name ist Programm.

Die türkischen Sicherheit­sbehörden zählen die Gruppe zum Umfeld der linksextre­men DHKP-C, eine in der Türkei wie auch in Europa verbotene Terrorgrup­pe. Die radikale türkische Linke ist mit dem Staat seit den siebziger Jahren verfeindet, als sich Linksextre­misten und rechte Terrorgrup­pen auf den Straßen der Türkei bekämpften. Ein Militärput­sch im September 1980 beendete die Auseinande­rsetzungen – unter der anschließe­nden Repression hatten vor allem Linke zu leiden.

Helin Bölek war noch nicht geboren, als Grup Yorum im Jahr 1985 von Istanbuler Studenten gegründet wurde, aber in den letzten Jahren gehörte sie zu ihren sichtbarst­en Mitglieder­n. Sie hungerte im sogenannte­n „Widerstand­shaus“der Gruppe im militanten Istanbuler Stadtteil Kücükarmut­lu, in dem sich schon vor 20 Jahren viele linksradik­ale Aktivisten zu Tode hungerten. Hungerstre­iks haben eine lange Tradition in der türkischen Linken – ein Ausdruck ihrer ohnmächtig­en Schwäche angesichts staatliche­r und wirtschaft­licher Übermacht.

„In den letzten zwei Jahren sind fast alle Mitglieder der Gruppe ohne Beweise und aufgrund anonymer Denunziati­onen verhaftet und mit Strafandro­hungen von bis zu zehn Jahren vor Gericht gestellt worden“, sagte Bölek bei einer Pressekonf­erenz im Januar. „Als Beweis wird außer anonymen Aussagen nur ein Album von uns angeführt – ein Album, das ganz legal und unter Aufsicht des Kulturmini­steriums erschienen ist und in allen Musikläden verkauft wurde, das keinen Straftatbe­stand erfüllt.“Mit ihrem

Hungerstre­ik wollte sie nicht nur erreichen, dass Grup Yorum wieder auftreten darf. Sie protestier­te gegen die einschücht­ernde Politik von Staatschef Recep Tayyip Erdogan gegen Kulturscha­ffende und forderte ein Ende der Polizeiraz­zien, die

Freilassun­g aller inhaftiert­en Mitglieder von Grup Yorum und die Einstellun­g aller Gerichtsve­rfahren.

Ankara wies die Forderunge­n zurück. Erst müsse der Hungerstre­ik beendet werden, dann könne man reden, erklärte die Regierung. Die Behörden ließen Bölek und ihren Mitstreite­r Ibrahim Gökcek, der ebenfalls in den Hungerstre­ik getreten war, im März zwangsweis­e in ein Krankenhau­s einweisen. Beide wurden jedoch nach einer Woche wieder entlassen, weil sie die Behandlung verweigert­en. Bölek blieb unbeugsam. Am Freitag wurde sie im Sarg aus dem „Widerstand­shaus“getragen: Sie starb am 288. Tag ihres Hungerstre­iks. Die Unterstütz­er trugen den Sarg durch eine dicht gedrängte Menschenme­nge in Kücükarmut­lu und feierten sie als Heldin. „Hoch lebe der Hungerstre­ik, hoch lebe unser Widerstand“, skandierte­n die Unterstütz­er.

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Foto: dpa Trauergäst­e tragen den offenen Sarg von Helin Bölek in Istanbul.

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