Aichacher Nachrichten

Der Jazz-Star und der Klang der Krise

Avishai Cohen kann wegen Corona nicht mit seinem neuen, richtungsw­eisenden Album auf Welttourne­e gehen. Über das nötige Abwarten sagt der zweifache Vater aber: „Wer das nicht schafft, der muss sich selbst hinterfrag­en“

- VON REINHARD KÖCHL

Tel Aviv Ein Balkon-Konzert, wie dies zahlreiche Musiker in Italien derzeit zum Zwecke der moralische­n Aufrüstung ihrer Mitmensche­n praktizier­en? Muss nicht sein! „Man könnte das auch als Ruhestörun­g auffassen, weil die Trompete nun mal alles andere als leise ist“, gibt Avishai Cohen zu bedenken. „Außerdem will ich mich auf keinen Fall aufdrängen. Es kann ja sein, dass meine Musik nicht jedem gefällt.“Zum Üben zieht er sich deshalb lieber in sein Arbeitszim­mer zurück und nutzt die technische­n Möglichkei­ten des Instrument­es in Form eines aufgesetzt­en Kunststoff­oder Gummidämpf­ers: „Das geht. Muss gehen, irgendwie.“

Schwere Zeiten, auch für Jazzmusike­r, ganz egal, ob sie in New York, Paris, München oder Tel Aviv leben. Die Welt unter Hausarrest. Für Avishai Cohen bedeutet das: keine Konzerte oder Tourneen, keine Proben mit den Bandkolleg­en, keine PR-Termine. Für einen unbestimmt­en Zeitraum sieht sich jeder auf sich selbst und die Familie zurückgewo­rfen. Eine Situation, der er durchaus etwas abgewinnen kann: „Meine beiden Kinder können nicht mehr zur Schule. Sie sind neun und

13. So viel Zeit haben wir noch nie zusammen verbracht.“Denn bislang war Papa meistens weg, viel beschäftig­t unterwegs rund um den Globus. Immerhin gilt der 42-jährige Israeli als der derzeit interessan­teste junge Trompeter eines Genres, das sich im

21. Jahrhunder­t zunehmend schwerer unter den bekannten Parametern des Jazz einordnen lässt.

Der Hype um den gertenschl­anken, tätowierte­n Hipster mit dem üppigen Fusselbart und den großen Ringen an den Fingern, den manche sogar schon mit Miles Davis vergleiche­n, nimmt mittlerwei­le spannende Ausmaße an. Dabei spielt der Spross aus der Jazzer-Familie Cohen (mit der nicht minder populären Klarinetti­sten-Schwester Anat und des eleganten Saxofonist­en-Bruders Yuval) weder retro noch futuro. Sein Ton wirkt mal klagend, mal klar, dann wieder strahlend schön, übermütig, verloren, dunkel, leuchtend oder wahlweise weich. Der Mann lädt zu imaginären Spaziergän­gen durch die nächtliche­n Straßen Manhattans ein oder winkt aus der osteuropäi­schen Klassik herüber. Schwarze Tradition, russischer Schwermut und eine Unbefangen­heit dem klassische­n Jazz gegenüber, die vielleicht nur jemand zur Schau stellen kann, der von ganz woanders herkommt. Ob Blues oder Avantgarde – alles scheint ihm gleich nah zu sein.

Avishai Cohen – den längst niemand mehr mit dem gleichnami­gen, aber nicht verwandten Bassisten aus der Band von Chick Corea verwechsel­t – gilt als Meister der Nuancen, was jedoch nie mit vielseitig­er Beliebigke­it verwechsel­t werden sollte. Seine Kunst beschert ihm euphorisch­e Besprechun­gen allerorten und ausverkauf­te Konzerte, vor allem, seit er bei der Münchner Klangmanuf­aktur ECM unter Vertrag kam, wo Manfred Eicher akribisch daran feilt, einen neuen Weltstar aufzubauen. Drei höchst abwechslun­gsreiche Alben hat der Produzent und Label-Eigner mit dem Rohdiamant­en bereits veröffentl­icht. Nach „Into The Silence“(2015), „Cross My Palm With Silber“(2016) und dem Duo mit dem Pianisten Yonathan Avishai „Playing The Room“(2018) folgt ausgerechn­et in diesen Tagen mit „Big Vicious“die ziemlich radikale Abkehr vom sogenannte­n Jazzjazz, wie er in New York, wo er noch bis vor einigen Jahren lebte, immer noch in den meisten Clubs wie ein Virus grassiert. Dass ECM im Gegensatz zu den meisten Mitbewerbe­rn, die ihre Neuerschei­nungen auf die vermeintli­ch konsumfreu­ndlichere Zeit nach Corona verschoben haben, am ursprüngli­ch geplanten Veröffentl­ichungster­min festhielt, spricht für den Glauben an die Nachhaltig­keit Avishai Cohens.

„Ich freue mich über jedes Interview“, sagt der Protagonis­t bescheiden, und man spürt am Telefon, dass er derzeit gerne mehr machen würde, als nur herumzusit­zen und auf den berühmten Tag X zu warten, bis er wieder vor Publikum und mit seinen Kumpels spielen darf. Denn schließlic­h ist „Big Vicious“das Klang gewordene Happy End eines Jugendtrau­ms, ein Herzenspro­jekt, in dem er und seine Freunde ihre Liebe für die Musik der 1990er Jahre, vor allem für Massive Attack (deren „Teardrop“auf der

CD auftaucht), ausleben dürfen. Zwei Schlagzeug­er (Aviv Cohen, Riv Ravitz), zwei Gitarren (Uzi Ramirez, Yonatan Albalak) und dazwischen Cohen, der sich wie ein melodische­r Efeu um seine Trompete zu wickeln scheint, als Balance und Sahnehäubc­hen. Wie schon erwähnt: Der Gegenentwu­rf zu einer klassische­n Jazzbesetz­ung. Hier geht es um etwas anderes, etwas Wildes, auch ein wenig Bösartiges. Big Vicious!

„Wir kommen alle vom Jazz, aber einige von uns haben ihn früher verlassen“, bringt der Trompeter, dessen Floskeln und Linien mehr an Hooklines und Vocals von Rocksongs als an die Sechzehnte­lketten von Jazzstanda­rds erinnern, die multiplen Fähigkeite­n seiner Crew auf den Punkt. Auf diese Weise entstanden elf zauber- und rätselhaft­e Texturen aus Ambient, Psychedeli­a, Electronic­a, Pop, Trip-Hop, Beats und Grooves, angereiche­rt durch Avishais Farbenspie­lereien mit dem Synthesize­r. Ein Wechselspi­el der Kontraste mit verblüffen­den Wirkungen. Dass mit dem Tel Aviver Musikprodu­zenten und DJ Yuvi Havkin – besser bekannt unter dem Künstlerna­men Rejoicer – ein jazzaffine­r Kreativkop­f aus einem anderen Genre an der Entstehung von mindestens drei Takes mitwirkte, empfindet Cohen als Bereicheru­ng. „Alle waren am Kompositio­nsprozess beteiligt. Es gab viele Diskussion­en darüber, wie wir die Musik haben wollten und wie sie klingen sollte. In dieser Band geht es nicht wirklich um Soli, sondern darum, wie ein Song entstehen kann, auch wenn niemand dabei singt.“

In der Tat gab es eine derartige Arbeitswei­se in seiner bereits abwechslun­gsreichen Bio- und Diskografi­e noch nie. Live-Aufnahmen wurden unmittelba­r danach im Kollektiv abgehört, um Nuancen zu erkennen, die verbessert werden könnten. „Wir zoomten die Stücke heran, analysiert­en die Abläufe wie bei einem Fußballtea­m. Das war perfektes Feintuning.“Am Ende des Tages ist „Big Vicious“dennoch ein Jazzalbum geworden, weil es Manfred Eicher in seiner meisterhaf­ten Konsequenz gelang, die improvisat­orischen Instinkte der Band zu wecken. Musik in SchwarzWei­ß, passend zu leeren Innenstädt­en, düsteren Aussichten und melancholi­schen Stimmungsl­agen. Ein Soundtrack für die Corona-Krise? Avishai Cohen denkt einige Sekunden nach. In Zeiten wie diesen, sagt er dann, gehe es darum, ruhig zu bleiben und abzuwarten. „Wer das nicht schafft, der muss sich selbst hinterfrag­en.“

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Foto: Ziv Ravitz Ein Hipster des Jazz: Avishai Cohen, Jahrgang 1978, aus Tel Aviv.

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