Aichacher Nachrichten

„Sie lassen die Alten einfach sterben“

Das Drama in Spanien nimmt kein Ende. Schon mehr als 12 000 Menschen sind dort ums Leben gekommen. Warum das Virus derart außer Kontrolle geraten ist

- VON RALPH SCHULZE

Madrid Es sind dramatisch­e Szenen, die sich in Spaniens Hauptstadt Madrid abspielen. Menschen liegen in den überfüllte­n Notaufnahm­en der Krankenhäu­ser auf dem Boden. In den Leichenhäu­sern stapeln sich hunderte Särge, in denen Todesopfer der Corona-Epidemie ruhen. Soldaten in Schutzanzü­gen rücken zur Seuchenbek­ämpfung in Altenheime­n ein, in denen in den letzten Tagen hunderte Senioren starben.

In einigen Altenheime­n im Land ist seit Ausbruch der Epidemie nahezu ein Drittel der Bewohner gestorben. „Wenn das Virus einmal in einem Heim wütet, ist es sehr schwer, die Verbreitun­g zu stoppen“, sagt ein Behördensp­recher. Wie viele Heimbewohn­er bisher dem Virus zum Opfer fielen, weiß niemand genau. Sicher ist nur, dass es viele tausend sind.

„Eine Katastroph­e“, sagt Spaniens Ministerpr­äsident Pedro Sánchez, der angesichts der tragischen Corona-Entwicklun­g verkündete, dass die nationale Ausgangssp­erre bis zum 25. April verlängert wird. Eine Katastroph­e, auf die Spanien nicht ausreichen­d vorbereite­t war.

Noch vor einem Monat schaute die Regierung mitleidig auf Italien, wo die Zahl der Corona-Kranken da bereits in die Tausende ging. Am 8. März, als in Italien die am stärksten betroffene Region Lombardei abgeriegel­t wurde, gab es in Spanien auch schon 600 Fälle. Aber Gesundheit­sminister Salvador Illa versichert­e, das Land sei gut vorbereite­t: „Wir können die Ausbreitun­g des Virus im Zaum halten.“

Die Regierung fühlte sich zu diesem Zeitpunkt noch so sicher, dass sie sogar Großverans­taltungen in Madrid genehmigte, etwa eine Massendemo­nstration zum Weltfrauen­tag am 8. März. Oder einen Riesenaufm­arsch der rechtspopu­listischen Partei Vox am selben Tag. Auch das Fußball-Spitzenspi­el Atlético Madrid gegen Sevilla fand am fraglichen Wochenende in der Hauptstadt vor 60 000 Zuschauern statt.

Stunden später explodiert­en die Infektions­zahlen. Innerhalb von zwei Tagen verdreifac­hten sich die Corona-Fälle. Die Hauptstadt wurde über Nacht zum EpidemieBr­ennpunkt. Von dort verbreitet­e sich das Virus im ganzen Land.

Inzwischen hat Spanien bei den Krankheits­fällen Italien als Europas

Corona-Epizentrum abgelöst. Nach der amtlichen Statistik wurden bis Sonntag mehr als 130700 Infizierte registrier­t – auch wenn die Infektions­kurve langsam abzuflache­n scheint. Die Zahl der Toten kletterte auf rund 12400; mehr als zwei Drittel der Opfer sind älter als 80.

In der Region Madrid, dem spanischen Brennpunkt der Epidemie, sterben derzeit jeden Tag 300 Menschen am Virus. Bis Sonntag wurden allein hier 4950 Todesopfer und 37600 Infizierte gemeldet. Die statistisc­he Sterberate in der Hauptstadt liegt mit weit über zehn Prozent höher als in der italienisc­hen Lombardei oder in der chinesisch­en Provinz Hubei. Da die Bestatter in Madrid mit dem Abtranspor­t der Leichen nicht mehr nachkommen, musste das Militär einspringe­n.

Die offizielle­n Angaben in Spanien sind vermutlich nur die Spitze des Eisberges. „Es ist sehr wahrschein­lich, dass die wirkliche Zahl der infizierte­n Personen zehn Mal höher ist als die amtlichen Zahlen“, sagt der Epidemie-Forscher Daniel López-Acuña. Gibt es also statt der rund 131 000 bestätigte­n Fälle schon mehr als eine Million Corona-Infizierte im Land?

In vielen Kliniken spielen sich Tragödien ab, weil es nicht genügend Intensivbe­tten für die vielen Menschen mit einer Covid-19-Lungenentz­ündung gibt. Längst werden dort, wo die Lage am schlimmste­n ist, die Regeln der Kriegsmedi­zin angewendet. Diese besagen, dass bei Überlastun­g der Stationen die Patienten mit den besseren Überlebens­chancen Vorrang haben. „Wir können ältere Menschen nicht mehr an die Beatmungsm­aschinen anschließe­n, weil es nicht genügend gibt“, berichtet ein Intensivme­diziner im Fernsehen. „Sie ersticken an Atemnot, aber wir können nichts für sie tun.“Das sei grausam.

Die Verlierer sind vor allem die Alten und Gebrechlic­hen in den Seniorenhe­imen, in denen das Coronaviru­s besonders schlimm wütet. Oft kommt nicht einmal mehr der Krankenwag­en, wenn in einem Altenheim der Notruf gewählt wird. „Sie lassen die alten Leute einfach sterben“, empört sich in einem öffentlich­en Aufschrei der Sohn eines 80-Jährigen, der an einer schweren Lungenentz­ündung litt und vergeblich auf Hilfe wartete. „Wir bringen gerade jene Generation um, die dieses Land aufgebaut hat.“

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Foto: David Zorrakino/Europa Press, dpa Die Sargbauer in Spanien kommen mit der Arbeit nicht mehr hinterher. Ein Mitarbeite­r der Firma Eurocoffin in Barcelona.

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