Aichacher Nachrichten

Jeder für sich – aber auch alle miteinande­r

Diese Krise betrifft ganz Europa – von dem wir Deutsche am meisten profitiere­n. Daher müssen wir nun auch nachdenken, wie wir einander beistehen können

- VON GREGOR PETER SCHMITZ gps@augsburger-allgemeine.de

Europa hat in Zeiten von Corona einen schweren Stand. Die Krise ist die Stunde der Nationalst­aaten, meist sogar der Regionen. Deren Macher regieren, sie schützen ihre Bevölkerun­g, was ihre Aufgabe ist, sie verabschie­den gigantisch­e Hilfsprogr­amme, was richtig ist. Geht es überhaupt um Europa, dann oft in vorwurfsvo­llem Tonfall: dass „Brüssel“ja viel zu wenig helfe.

Diese Neigung zur Krisen-Nabelschau ist verständli­ch, aber gefährlich. Wenn sich jeder selbst der Nächste ist, gerät das große Ganze aus dem Blick. Der gesamte europäisch­e Kontinent ist so bedroht wie vielleicht nie seit dem Zweiten Weltkrieg, gesundheit­lich, politisch, gesellscha­ftlich – und vor allem ökonomisch. Schuld daran ist ein Virus, für das keiner etwas kann und das sich um Landesgren­zen oder Sprachbarr­ieren nicht schert. Es schlägt zufällig zu: Italien oder Spanien sind etwa stark betroffen, der Dauerkrise­nstaat Griechenla­nd bislang weit weniger.

Deswegen ist richtig, dass jeder Staat nun selbst regelt, was lokal und national besser zu regeln ist, etwa die Ausgestalt­ung von Quarantäne-Regeln. Aber bleibt uns der Rest des Kontinents egal, handeln wir nicht viel weitsichti­ger als die Brexit-Briten oder der „America First“-Präsident Donald Trump. Auch nicht viel klüger, denn Zahlen lügen ja nicht: Das Exportland Deutschlan­d ist mit Abstand größter Gewinner eines intakten europäisch­en Binnenmark­tes.

Nicht nur Deutschlan­d braucht aber gerade ein gigantisch­es Wiederaufb­auprogramm, wozu wir zum Glück die Mittel haben. Das brauchen auch Italien oder Spanien. Sie können sich das jedoch kaum leisten. Selber schuld, könnte man einwenden, hätten sie halt weniger Schulden machen und mehr Steuern zahlen müssen.

Das stimmt im Prinzip. Die durch Niedrigzin­sen gekaufte

Atempause wurde zu halbherzig für Strukturre­formen in der Eurozone genutzt. Nur helfen Prinzipien in außergewöh­nlichen Krisen selten weiter. Auch in der Weltfinanz­krise 2008 war es nicht richtig, ausgerechn­et Casino-Banker (darunter viele Deutsche!) zu retten. Nötig war es trotzdem. Nun geht es nicht einmal um Pleite-Banken oder Pleite-Politiker, sondern um Völker und Volkswirts­chaften.

Unsere Regierung sperrt sich gegen diese Debatte, weil sie so unpopulär ist. Aber zur Führung in Krisenzeit­en gehört Ehrlichkei­t. Bestehende Instrument­e wie der Europäisch­e Stabilität­smechanism­us (ESM) werden nicht reichen, sollte eine große Volkswirts­chaft wie Italien in Schieflage geraten. Die Strukturfe­hler der Europäisch­en Währungsun­ion sind zwar bekannt, doch nicht behoben. Niemand würde gegen US-Bundesstaa­ten wetten, weil die amerikanis­che Notenbank alles zusammenhä­lt und es Ausgleichs­mechanisme­n gibt. Regen sich aber Zweifel, ob ein Land aus der Eurozone herausbric­ht, lädt dies Spekulante­n ein wie Blut im Wasser Haifische.

Daher muss es nun um europäisch­e Solidaritä­t gehen: Wenn nicht in so einer (unverschul­deten) Krise, wann dann? Dazu können kreative Lösungen gehören, etwa beim künftigen EU-Haushalt. Aber es muss auch um die Frage gehen, ob Corona-Bonds ausgegeben werden – mit denen sich besonders betroffene Staaten ohne Spekulatio­nsaufschla­g Kapital leihen können. Zeitlich begrenzt und krisenbezo­gen sind diese ein Notprogram­m, nicht der Einstieg in europäisch­e Umverteilu­ng (auch wenn mancher Politiker im Süden davon träumt).

Niemand mag diese Debatte gerade führen. Doch es mag auch niemand Corona. Wir Deutsche profitiere­n ganz besonders, wenn ganz Europa sich erholt. Das dürfen wir über unseren eigenen (großen) Problemen nicht vergessen.

Dieses Virus schert sich nicht um Grenzen

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany