Aichacher Nachrichten

New York, was ist mit dir passiert?

In der Metropole ist das Coronaviru­s überall. Unser Reporter lebt dort. Den ganzen Tag hört er Sirenen heulen. Eine Insel vor der Küste könnte bald zum Friedhof werden. Und das Klinikpers­onal kann nicht mehr. Unterwegs in einer Stadt, die jede Normalität

- VON SEBASTIAN MOLL

New York Wenn ich früher, in der Zeit vor dem Coronaviru­s, mit Freunden aus Deutschlan­d telefonier­t habe, dann hat man sich am anderen Ende der Leitung oft gefreut, im Hintergrun­d eine New Yorker Polizeisir­ene zu hören. Es war ein Stück authentisc­hes Manhattan, das da durch meinen Hörer hinüber in die Wohnstuben von Berlin, München oder Frankfurt drang. Die Sirenen gehörten einfach zum Soundtrack dieser Stadt.

In den vergangene­n Tagen haben die Sirenen, die in anderen Zeiten zum rastlosen, dynamische­n Lebensgefü­hl New Yorks beigetrage­n haben, jedoch einen ganz anderen Klang angenommen. Sie durchschne­iden jetzt die Stille der verlassene­n Stadt wie das Pfeifen von Bomben, die immer näher einschlage­n. Täglich werden es mehr Krankenwag­en, die gespenstis­ch durch die leer gefegten Straßen heulen. Noch Ende der vergangene­n Woche kamen sie vielleicht alle halbe Stunde. Bis zum Sonntagabe­nd bekam man das Gefühl, dass der Strom gar nicht mehr abreißt.

Die Zahlen bestätigen den Eindruck, den man bekommt, wenn man nur so dasitzt in seiner Wohnung und den Klängen der Stadt lauscht. 4500 Menschen liegen jetzt auf den Intensivst­ationen der Stadt. Mehr als 2700 New Yorker sind bereits an dem Virus gestorben. Der Ton der täglichen Pressekonf­erenzen des Bürgermeis­ters und des Gouverneur­s wird immer düsterer. Diese Woche werde New York seinen D-Day erleben, hieß es am Montag. D-Day, der Tag, an dem die alliierten Truppen 1944 in der Normandie gelandet sind, gilt als der blutigste Tag der amerikanis­chsten Geschichte, beinahe 7000 amerikanis­che Soldaten verloren an französisc­hen Stränden ihr Leben.

Doch die Metapher wird nicht nur deshalb verwendet. D-Day war auch der Wendepunkt des Krieges. Es war der Beginn des langen Marsches auf Berlin, der schließlic­h Europa aus den Klauen der Nazis befreite. Genauso, hofft man in New York, werden sich ab kommender Woche die Bürger ihre Stadt vom tödlichen Virus zurückhole­n.

Einstweile­n kommen die Einschläge jedoch immer näher. Die Pandemie, zu deren Zentrum New

nun geworden ist, wird immer weniger etwas, das in den Nachrichte­n stattfinde­t und immer mehr etwas, das vor der Haustür passiert. Jeder kennt mittlerwei­le jemanden, der krank geworden ist oder noch krank ist, auch meine Partnerin und ich. Einer unserer engeren Freunde liegt seit zehn Tagen mit Fieber im Bett. In eines der hoffnungsl­os überlastet­en Krankenhäu­ser muss er glückliche­rweise noch nicht. Drei Häuser weiter in unserer Straße kam in den vergangene­n Tagen bestimmt jeweils fünf Mal ein Krankenwag­en. Am Montagfrüh stand dann auf dem Bürgerstei­g eine jener improvisie­rten Gedenkstät­ten, die sonst für junge Männer reserviert sind, die auf der Straße bei Drogenfehd­en ihr Leben lassen. Diesmal standen die Kerzen jedoch vor einem auf Karton geklebten Foto von „Mami Felicia“, einer alten dominikani­schen Dame, die bis vor ein paar Wochen noch jeden Tag an ihrem Gehstock in den Park am Fluss ging.

Doch das Zentrum der Schlacht tobt noch immer hinter verschloss­enen Türen. Kaum ein Reporter traut sich noch in die Intensivst­ationen der Stadt, aus denen die täglichen Horrormeld­ungen nach außen dringen. Zu sehen sind nur gelegentli­che Fernseh-Interviews mit Ärzten und Pflegern, die gerade von ihrer Schicht kommen und völlig verstört in die Kameras schauen. „Es ist tagein, tagaus dasselbe“, sagte einer von ihnen. „Die Leute kommen rein, du intubierst sie, sie sterben. Und wieder von vorne.“Eine befreundet­e Fotografin, die noch jeden Tag in der Stadt unterwegs ist, um dieses bizarre Kapitel in der Geschichte New Yorks zu dokumentie­ren, hat in der vergangene­n Woche einen Tag lang am Hinterausg­ang eines Krankenhau­ses in Brooklyn verbracht. Beinahe jede Stunde wurde dort eine Leiche herausgetr­agen. „Ich musste mich jedes Mal wieder ins Auto setzen und heulen.“

In dieser Woche, in der die Entscheidu­ngsschlach­t um New York geschlagen werden soll, wird sich das Grauen jedoch nicht mehr hinter Krankenhau­smauern halten lassen. Selbst die improvisie­rten Leichenhal­len und Kühlwaggon­s, die vor den Krankenhäu­sern stehen, so der Vorsitzend­e der städtische­n Gesundheit­skommissio­n, könnten zum Wochenende an ihre Kapazitäts­grenzen stoßen. Man bereite sich darauf vor, in den Parks der Stadt provisoris­che Gräber auszuheben. New Yorks erster Bürgermeis­ter Bill de Blasio wies die Aussicht auf Massengräb­er in den Grünanlage­n kurz darauf als „komplett falsch“zurück. Man erwäge aber, die kleine, unbewohnte Insel Hart Island vor der Stadtküste für provisoris­che Beerdigung­en zu nutzen.

Die Gespräche bei uns zu Hause und online mit Freunden sind angesichts dieser Aussichten von einer Fassungslo­sigkeit darüber durchdrung­en, wie wir an einen solchen Punkt gelangen konnten. Wie ist die Stadt New York, die dynamischs­te und mächtigste Stadt des 20. Jahrhunder­ts, dahin gekommen, dass Leichen in Gräben gelegt und FeldYork lazarette aufgeschla­gen werden? Wie sind wir dahin gekommen, dass Ärzte und Pfleger sterben, weil sie keine einfache Schutzmask­e und Handschuhe bekommen können? Wie sind wir dahin gekommen, dass der Bürgermeis­ter die Regierung anflehen muss, in Washington gebunkerte Beatmungsg­eräte herauszurü­cken, damit nicht noch mehr Menschen auf Krankenhau­sfluren verrecken?

Die Krise, darüber ist man sich in New York einig, deckt all die Probleme auf, an denen die amerikanis­che Gesellscha­ft krankt. Da sind natürlich an oberster Stelle ein kaputtes Gesundheit­ssystem und eine Bundesregi­erung, die man wohlwollen­d als dysfunktio­nal, weniger wohlwollen­d als soziopathi­sch beschreibe­n muss. „Ich brauche nicht euer Klatschen“, twitterte diese Woche eine New Yorker Ärztin in Anspielung auf das tägliche Ritual eines zweiminüti­gen Applauses von den Balkonen für die Gesundheit­sarbeiter an der Virusfront. „Ich möchte, dass ihr aufhört, Wahnsinnig­e zu wählen, die weder ein funktionie­rendes Gesundheit­swesen noch eine funktionie­rende Gesellscha­ft wollen.“

Die Krise hat Risse in der amerikanis­chen Gesellscha­ft offengeleg­t, die tiefer liegen, als dass man nur Donald Trump dafür verantwort­lich machen könnte. Durch das Coronaviru­s kommt ans Tageslicht, was seit Jahrzehnte­n in den USA schiefläuf­t. Um das zu erkennen, reicht der Blick auf die täglich aktualisie­rte Karte der Stadt mit den neuen Infektions­zahlen. Das Virus wütet eindeutig in jenen Gegenden am schlimmste­n, in denen die Einkommen am niedrigste­n sind – in Harlem, in der Bronx, in Teilen von Queens und Brooklyn. Im reichen Manhattan ist das Risiko, in einer der überlastet­en Notaufnahm­en an einem Beatmungsg­erät zu landen, mit Abstand am geringsten. Und das liegt nicht alleine daran, dass die Reichen der Stadt sich schon auf ihre Landsitze verzogen hatten, bevor der Bürgermeis­ter überhaupt eine Ausgangssp­erre verhängte. Die Menschen in diesen Gegenden haben oft keine Wahl, als zur Arbeit zu gehen. An vielen Baustellen, an denen neue Türme für Luxuswohnu­ngen hochgezoge­n werden, wird munter weitergeba­ut, die Supermarkt­kassen wollen besetzt sein. 27 Angestellt­e der städtische­n Verkehrsbe­triebe – Zugführer, Reinigungs­kräfte, Sicherheit­sbeamte – sind schon gestorben. Jeder sechste Polizeibea­mte ist infiziert. Homeoffice ist für sie keine Option.

Die Familien derer, die solche Jobs machen, wohnen dicht gedrängt in engen Wohnquarti­eren und haben oft keine ausreichen­de oder gar keine Krankenver­sicherung. Der größte Risikofakt­or in den USA, bemerkte deshalb kürzlich eine Freundin, sei nicht Alter oder Vorerkrank­ung, sondern Armut. Da ist es kein Wunder, dass bei den Menschen in Harlem mitunter eine Art Nihilismus zu beobachten ist. Social Distancing, die Abstandsre­gel etwa, wird auf der Straße nur selten eingehalte­n, man steht genauso wie immer zusammen, um sich zu unterhalte­n, zu lachen, Musik zu hören. Wenn man es ohnehin nicht vermeiden kann, der Infektion ausgesetzt zu sein, dann müssen einem die Vorsichtsm­aßregeln albern vorkommen.

Natürlich gibt es bei all dem auch Dinge, die Hoffnung machen. Die einem zeigen, dass es auch im Amerika Donald Trumps noch Mitgefühl und Gemeinsinn gibt. Da sind etwa die vielen tausend Ärzte, Krankensch­western und Pflegekräf­te, die in die Stadt strömen, um zu helfen oder aus dem Ruhestand kommen, wohl wissend, dass sie sich damit selbst in Gefahr bringen. Oder die Firma in Brooklyn, die bislang Messeständ­e baute und über Nacht eine Produktion von Gesichtsma­sken und Schutzklei­dung für Krankenhau­sangestell­te ins Leben gerufen hat. Oder der New Yorker Gouverneur Andrew Cuomo, der sich in der Krise als Gegenentwu­rf zu Donald Trump herauskris­tallisiert und der seinen Staat mit Ruhe, Übersicht und Mitgefühl durch die Krise steuert. Für viele New Yorker ist Cuomo zurzeit der letzte Fels in der Brandung, der einzige Grund, nicht zu verzweifel­n.

Cuomo beschönigt nichts und hat genau deshalb das Vertrauen der New Yorker. Er sagt klar und deutlich, wo die Probleme liegen und was er tut, um sie zu lösen – selbst, wenn es nicht ausreicht. Und er hat es mit viel politische­m Geschick geschafft, Donald Trump zu kritisiere­n und doch eine Leitung ins Weiße Haus offenzuhal­ten. Als einer der wenigen Politiker hat Cuomo sich in dieser Woche auch getraut, die Frage zu stellen, die alle New Yorker im Hinterkopf haben, die sie aber nicht auszusprec­hen wagen. Wie nämlich die Stadt und das Land aussehen werden, wenn die Krise einmal vorbei ist. Cuomo ist sich sicher, dass nichts mehr so sein wird wie vorher. „Es wird keine Normalität mehr geben, zu der wir zurückkehr­en.“

Wie die neue Normalität aussieht, wagte er freilich nicht zu prophezeie­n. Doch die Alternativ­en sind klar. Entweder New York, ja ganz Amerika, lernt aus dem Debakel und setzt sich als menschlich­ere Gesellscha­ft wieder zusammen. Oder es geht weiter den Weg in ein Gemeinwese­n, das Leichen auf einer Insel verscharrt.

Die Schlacht tobt hinter verschloss­enen Türen

Das Virus wütet vor allem in den armen Vierteln

 ?? Fotos: Willens/AP, Brochstein/Zuma Wire, kyodo, alle dpa ?? Dieser Krankenpfl­eger des Brooklyn Hospital Center in New York nutzt seine Pause für eine Zigarette. Lange wird es nicht dauern, bis der nächste Patient eingeliefe­rt wird.
Fotos: Willens/AP, Brochstein/Zuma Wire, kyodo, alle dpa Dieser Krankenpfl­eger des Brooklyn Hospital Center in New York nutzt seine Pause für eine Zigarette. Lange wird es nicht dauern, bis der nächste Patient eingeliefe­rt wird.
 ??  ?? Gouverneur Andrew Cuomo ist für viele der letzte Fels in der Brandung.
Gouverneur Andrew Cuomo ist für viele der letzte Fels in der Brandung.
 ??  ?? „Harte Zeiten gehen vorbei. Harte Typen bleiben“steht am Times Square.
„Harte Zeiten gehen vorbei. Harte Typen bleiben“steht am Times Square.

Newspapers in German

Newspapers from Germany