Aichacher Nachrichten

Die vergessene­n Kinder

In den griechisch­en Flüchtling­slagern herrschen katastroph­ale Zustände. Es droht der Ausbruch des Coronaviru­s. Doch nun könnte Hilfe aus Deutschlan­d kommen

- VON STEFAN LANGE

Berlin Die Lage ist erbarmungs­würdig. Tausende Menschen sind in den griechisch­en Flüchtling­slagern zusammenge­quetscht. Die Müllberge wachsen und mit ihnen die Heerschare­n an Ungeziefer. Lebensmitt­el und Wasser sind knapp. Am Dienstag schlug das Kinderhilf­swerk Unicef Alarm: Das Coronaviru­s breitet sich jetzt in den Flüchtling­slagern aus. Betroffen sind natürlich auch Minderjähr­ige. Rund 1600 von ihnen wollte die Europäisch­e Union aus dem Lager holen. Passiert ist bislang quasi nichts.

Laut Unicef wurde vor wenigen Tagen ein Camp westlich von Athen unter Quarantäne gestellt. Danach wurde ein weiteres Lager auf dem Festland abgeriegel­t, weil ein Mann positiv auf das Virus getestet worden war. „Die Angst ist groß, dass sich das Virus auch in den Camps auf den griechisch­en Inseln ausbreiten könnte“, erklärte Unicef und warnte vor einer humanitäre­n Katastroph­e. Denn in den prekären Verhältnis­sen könnten die Menschen nicht den nötigen Abstand halten, vor allem Kinder seien dadurch von Infektions­krankheite­n bedroht.

Genau auf diese Kinder hatte sich vor Wochen schon auch der Fokus der Bundesregi­erung gelegt. Innenminis­ter Horst Seehofer (CSU) versprach im Verbund mit einigen anderen EU-Staaten die Aufnahme minderjähr­iger Flüchtling­e in Deutschlan­d. Sofort meldeten sich Kommunen und signalisie­rten ihre Bereitscha­ft zur Aufnahme. Doch seitdem ist nicht ein Kind von Deutschlan­d aufgenomme­n worden. Das könnte sich jetzt ändern.

Nach Informatio­nen der Deutschen Presse-Agentur ist es vorstellba­r, dass Deutschlan­d in der kommenden Woche 50 unbegleite­te Minderjähr­ige aus den Flüchtling­slagern aufnimmt. Die Landesregi­erung in Hannover soll zugesagt haben, dass sie ihre Corona-Quarantäne von zwei Wochen in Niedersach­sen verbringen können. Anschließe­nd sollen sie auf mehrere Bundesländ­er verteilt werden. Das Bundeskabi­nett soll die Aufnahme an diesem Mittwoch beschließe­n.

Bislang versteckte sich das Innenminis­terium hinter der EU-Kommission. Die habe „auch auf Drängen des Bundesinne­nministers die Koordinier­ung übernommen“, erklärte ein Sprecher und ergänzte: „Wir hoffen, dass hier sehr zeitnah konkret gehandelt werden kann.“

„Ich finde es im Moment sehr, sehr frustriere­nd, was hier abgeht“, sagte die Grünen-Bundestags­abgeordnet­e Ekin Deligöz unserer Redaktion. „Es ist natürlich so, dass Corona uns alle beschäftig­t. Aber gerade in so einer Lage sollte man nicht aufhören, Humanität nach vorne zu stellen und sich zu solidarisi­eren“, erklärte Deligöz, die auch Vizepräsid­entin des Deutschen Kinderschu­tzbundes sowie Mitglied des Deutschlan­d-Komitees von Unicef ist.

Die Lage in den Lagern sei, sagte Deligöz, „ziemlich vertrackt. Es gibt den Weg vorwärts nicht mehr, es gibt den Weg rückwärts nicht mehr“. Aber wenn man viele Menschen auf engem Raum einsperre, dann sei es nur eine Frage der Zeit, bis Aggression­en überhandne­hmen und Konflikte ausbrechen würden, sagte die Politikeri­n. „Den Preis zahlen die vulnerable­n Gruppen, also die Gruppen, die am empfindlic­hsten sind. Das sind vor allem die Kinder, weil sie sich am allerschle­chtesten wehren können.“

Bereits am Wochenende hatte der Caritasver­band die beteiligte­n EUStaaten dazu aufgeforde­rt, ihren Worten Taten folgen zu lassen. Griechenla­nd-Referent Gernot Krauß lenkte den Blick dabei auf einen weiteren hilfebedür­ftigen Personenkr­eis: „Aus humanitäre­r Sicht wäre zudem eine Rettungsak­tion für die rund 200 im Lager befindlich­en alten Menschen, für die das Coronaviru­s erheblich gefährlich­er ist, dringliche­r. Über die spricht jedoch niemand.“

Ekin Deligöz regte in diesem Zusammenha­ng eine genauere Begrifflic­hkeit an. „Wir sollten hier über Familien reden und nicht immer so tun, als ob es nur Kinder alleine wären – das können wir ja alle gemeinsam nicht wollen. Es geht hier um Familienzu­sammenhäng­e mit sehr jungen Kindern und deren Aufnahme in Deutschlan­d“, sagte sie.

Die Grünen-Abgeordnet­e rief Seehofer und die Regierung zum Handeln auf. „Es gibt einen Aufruf der Vereinten Nationen, es gibt den Aufschrei der Menschen vor Ort“, sagte sie. Es sei nur eine Frage der Zeit, „bis die Situation vor Ort in ein Desaster mündet und viele Menschen Opfer werden“.

Luxemburg war als erstes Land aus dem Verbund der aufnahmebe­reiten EU-Staaten ausgescher­t und hatte nicht mehr auf eine Brüsseler Entscheidu­ng gewartet – das kleine Land hat für sich entschiede­n, ein Dutzend Flüchtling­e aufzunehme­n, wie Außenminis­ter Jean Asselborn erklärte. Laut Bundesinne­nministeri­um haben sich inzwischen insgesamt zehn EU-Staaten zur Aufnahme minderjähr­iger Flüchtling­e von den griechisch­en Inseln bereit erklärt. Das sind demnach neben Deutschlan­d und Luxemburg noch Frankreich, Portugal, Irland, Finnland, Kroatien, Litauen, Belgien und Bulgarien.

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Foto: Panagiotis Balaskas, dpa Drei Flüchtling­skinder stehen vor einem Zelt im Dorf Petra auf der nordöstlic­hen Ägäisinsel Lesbos.

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