Die vergessenen Kinder
In den griechischen Flüchtlingslagern herrschen katastrophale Zustände. Es droht der Ausbruch des Coronavirus. Doch nun könnte Hilfe aus Deutschland kommen
Berlin Die Lage ist erbarmungswürdig. Tausende Menschen sind in den griechischen Flüchtlingslagern zusammengequetscht. Die Müllberge wachsen und mit ihnen die Heerscharen an Ungeziefer. Lebensmittel und Wasser sind knapp. Am Dienstag schlug das Kinderhilfswerk Unicef Alarm: Das Coronavirus breitet sich jetzt in den Flüchtlingslagern aus. Betroffen sind natürlich auch Minderjährige. Rund 1600 von ihnen wollte die Europäische Union aus dem Lager holen. Passiert ist bislang quasi nichts.
Laut Unicef wurde vor wenigen Tagen ein Camp westlich von Athen unter Quarantäne gestellt. Danach wurde ein weiteres Lager auf dem Festland abgeriegelt, weil ein Mann positiv auf das Virus getestet worden war. „Die Angst ist groß, dass sich das Virus auch in den Camps auf den griechischen Inseln ausbreiten könnte“, erklärte Unicef und warnte vor einer humanitären Katastrophe. Denn in den prekären Verhältnissen könnten die Menschen nicht den nötigen Abstand halten, vor allem Kinder seien dadurch von Infektionskrankheiten bedroht.
Genau auf diese Kinder hatte sich vor Wochen schon auch der Fokus der Bundesregierung gelegt. Innenminister Horst Seehofer (CSU) versprach im Verbund mit einigen anderen EU-Staaten die Aufnahme minderjähriger Flüchtlinge in Deutschland. Sofort meldeten sich Kommunen und signalisierten ihre Bereitschaft zur Aufnahme. Doch seitdem ist nicht ein Kind von Deutschland aufgenommen worden. Das könnte sich jetzt ändern.
Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur ist es vorstellbar, dass Deutschland in der kommenden Woche 50 unbegleitete Minderjährige aus den Flüchtlingslagern aufnimmt. Die Landesregierung in Hannover soll zugesagt haben, dass sie ihre Corona-Quarantäne von zwei Wochen in Niedersachsen verbringen können. Anschließend sollen sie auf mehrere Bundesländer verteilt werden. Das Bundeskabinett soll die Aufnahme an diesem Mittwoch beschließen.
Bislang versteckte sich das Innenministerium hinter der EU-Kommission. Die habe „auch auf Drängen des Bundesinnenministers die Koordinierung übernommen“, erklärte ein Sprecher und ergänzte: „Wir hoffen, dass hier sehr zeitnah konkret gehandelt werden kann.“
„Ich finde es im Moment sehr, sehr frustrierend, was hier abgeht“, sagte die Grünen-Bundestagsabgeordnete Ekin Deligöz unserer Redaktion. „Es ist natürlich so, dass Corona uns alle beschäftigt. Aber gerade in so einer Lage sollte man nicht aufhören, Humanität nach vorne zu stellen und sich zu solidarisieren“, erklärte Deligöz, die auch Vizepräsidentin des Deutschen Kinderschutzbundes sowie Mitglied des Deutschland-Komitees von Unicef ist.
Die Lage in den Lagern sei, sagte Deligöz, „ziemlich vertrackt. Es gibt den Weg vorwärts nicht mehr, es gibt den Weg rückwärts nicht mehr“. Aber wenn man viele Menschen auf engem Raum einsperre, dann sei es nur eine Frage der Zeit, bis Aggressionen überhandnehmen und Konflikte ausbrechen würden, sagte die Politikerin. „Den Preis zahlen die vulnerablen Gruppen, also die Gruppen, die am empfindlichsten sind. Das sind vor allem die Kinder, weil sie sich am allerschlechtesten wehren können.“
Bereits am Wochenende hatte der Caritasverband die beteiligten EUStaaten dazu aufgefordert, ihren Worten Taten folgen zu lassen. Griechenland-Referent Gernot Krauß lenkte den Blick dabei auf einen weiteren hilfebedürftigen Personenkreis: „Aus humanitärer Sicht wäre zudem eine Rettungsaktion für die rund 200 im Lager befindlichen alten Menschen, für die das Coronavirus erheblich gefährlicher ist, dringlicher. Über die spricht jedoch niemand.“
Ekin Deligöz regte in diesem Zusammenhang eine genauere Begrifflichkeit an. „Wir sollten hier über Familien reden und nicht immer so tun, als ob es nur Kinder alleine wären – das können wir ja alle gemeinsam nicht wollen. Es geht hier um Familienzusammenhänge mit sehr jungen Kindern und deren Aufnahme in Deutschland“, sagte sie.
Die Grünen-Abgeordnete rief Seehofer und die Regierung zum Handeln auf. „Es gibt einen Aufruf der Vereinten Nationen, es gibt den Aufschrei der Menschen vor Ort“, sagte sie. Es sei nur eine Frage der Zeit, „bis die Situation vor Ort in ein Desaster mündet und viele Menschen Opfer werden“.
Luxemburg war als erstes Land aus dem Verbund der aufnahmebereiten EU-Staaten ausgeschert und hatte nicht mehr auf eine Brüsseler Entscheidung gewartet – das kleine Land hat für sich entschieden, ein Dutzend Flüchtlinge aufzunehmen, wie Außenminister Jean Asselborn erklärte. Laut Bundesinnenministerium haben sich inzwischen insgesamt zehn EU-Staaten zur Aufnahme minderjähriger Flüchtlinge von den griechischen Inseln bereit erklärt. Das sind demnach neben Deutschland und Luxemburg noch Frankreich, Portugal, Irland, Finnland, Kroatien, Litauen, Belgien und Bulgarien.