Aichacher Nachrichten

Großbritan­nien hofft und bangt

Corona Premier Johnson liegt auf der Intensivst­ation. Wer regiert jetzt das Königreich? Eine Verfassung, die das regelt, gibt es nicht auf der Insel

- VON KATRIN PRIBYL

London Es ist erst gut einen Monat her, als sich Boris Johnson während einer Pressekonf­erenz in seiner jovialen Art damit brüstete, weiterhin jedem die Hand zu schütteln – Coronaviru­s-Patienten im Krankenhau­s eingeschlo­ssen. Eine Ellbogen-Ellbogen-Begrüßung? Kam für den britischen Premiermin­ister zunächst nicht infrage. Damals verfolgten die Zuhörer im Raum noch pikiert seinen Ausführung­en. Seit Montagaben­d herrscht im Königreich dagegen Bestürzung. Der Regierungs­chef liegt auf der Intensivst­ation, nachdem er vor knapp zwei Wochen positiv auf Covid-19 getestet wurde und am Sonntagabe­nd ins Londoner St. Thomas’ Hospital eingeliefe­rt worden war. Er erhalte zwar eine Sauerstoff­versorgung, musste aber nicht an ein Beatmungsg­erät angeschlos­sen werden, hieß es von einem Sprecher der Downing Street. Der Zustand des Premiers sei stabil, er habe keine Lungenentz­ündung und sei „in guter Stimmung“.

Es sind dieselben Beschwicht­igungen, wie sie schon am Montag zu hören waren. Werden die Berichte über Johnsons Gesundheit geschönt, um die Bevölkerun­g zu beruhigen? Immerhin wurde bekannt, dass es

55-Jährigen bereits die ganze vergangene Woche schlecht ging, er unter hohem Fieber und Husten litt, aber trotzdem weiterarbe­itete.„Wir beten für seine schnelle Erholung“, sagte Staatsmini­ster Michael Gove und stimmte in den Chor der Sympathisa­nten ein.

Johnsons Ausfall kommt für die Briten zum denkbar ungünstigs­ten Zeitpunkt. Das Königreich steckt in der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, der nationale Gesundheit­sdienst NHS steht kurz vor dem Kollaps, und täglich steigt die Zahl der Todesopfer massiv an. Bis Dienstagmi­ttag sind allein in den Krankenhäu­sern des Landes rund 6000 mit dem Coronaviru­s infizierte Menschen gestorben. Beobachter warnten, es dürfe nicht zur Situation kommen, dass Großbritan­nien führerlos durch diese Krise schlittert.

Zwar hat Johnson am Montagaben­d Außenminis­ter Dominic Raab gebeten, die Amtsgeschä­fte bis zu seiner Genesung als De-factoStell­vertreter zu übernehmen und die Pläne der Regierung für den Kampf gegen das Coronaviru­s voranzutre­iben. Doch in Großbritan­nien gibt es keine geschriebe­ne Verfassung, die solche Fälle regeln würde. Offiziell hat Johnson bei der Regierungs­bildung keinen Stellvertr­eernannt. „Die Vollmacht im britischen System hängt von der Unterstütz­ung des Kabinetts ab“, sagte Bronwen Maddox, Direktorin der renommiert­en Denkfabrik „Institute for Government“, gegenüber Medien. Raab könne in seiner Position seine Autorität nicht überschrei­ten, sondern müsse den Bedem schlüssen folgen, die Johnson festgelegt habe, oder sich im Konsens mit den konservati­ven Kollegen im Kabinett auf notwendige Schritte einigen. Anders als beispielsw­eise in den USA wäre Raab auch im äußersten Notfall nicht automatisc­h Nachfolger von Boris Johnson. „Es ist ein glückliche­r Umstand in einer zuter tiefst bedauerlic­hen und besorgnise­rregenden Episode, dass einige der großen Entscheidu­ngen schon getroffen sind“, sagt Maddox. So hat Johnson bereits vor mehr als zwei Wochen den Lockdown des Landes verordnet und auch wirtschaft­liche Rettungspa­kete wurden geschnürt. Die Kritik, man habe in der Pandemie zu spät gehandelt, dazu noch mit einem Zickzackku­rs, wiesen Johnson wie auch andere Regierungs­vertreter stets zurück. Man sei allein den Empfehlung­en der medizinisc­hen Experten gefolgt und habe in jenem Moment mit strikten Maßnahmen reagiert, als die Fachleute zu diesen rieten.

Nun müssen sie weiterhin umgesetzt werden, „ein Albtraum für das Kabinett“, wie ein Kommentato­r schrieb. Und keine leichte Aufgabe für Raab, der als loyaler Unterstütz­er von Johnson gilt. Kann der Chefdiplom­at die Rolle des Chefkrisen­managers einnehmen? Der 46-Jährige, in der südenglisc­hen Grafschaft Buckingham­shire als Sohn einer anglikanis­chen Mutter und eines jüdischen Vaters geboren, begann seine Karriere nach einem Jurastudiu­m an den Elite-Universitä­ten Oxford und Cambridge als Rechtsanwa­lt in einer Londoner Kanzlei, bevor er im Jahr 2000 in den diplomatis­chen Dienst eintrat. „Dom“, wie er von Freunden und Kollegen genannt wird, arbeitete einige Zeit in Den Haag, wo er die Verfolgung von Kriegsverb­rechern unterstütz­te, sowie im Außenminis­terium. 2006 folgte dann der Wechsel in die Politik. Der begeistert­e Kampfsport­ler schaffte 2010 den Sprung ins Unterhaus, wo er seine Ansichten zunehmend den eigenen Karriereau­ssichten anpasste. Es ist noch nicht lange her, da schlug er vor, das widerspens­tige Unterhaus notfalls zu suspendier­en, um den EU-Austritt durchzuset­zen. Die Zahl der Kritiker des Außenminis­ters auf der Insel ist entspreche­nd groß.

Etliche Beobachter sorgen sich derweil nicht nur um Johnson, sondern auch um seine schwangere Verlobte, Carrie Symonds, die ebenfalls Symptome gezeigt und deshalb eine Woche im Bett verbracht hat. Auf Covid-19 getestet wurde die 32-Jährige nicht, wie sie selbst am Wochenende per Twitter bekannt gab. Ihr gehe es aber bereits besser. In Großbritan­nien fehlt es nicht nur an persönlich­er Schutzausr­üstung, sondern vor allem an Tests. Getestet wird in der Regel nur, wer so schwer erkrankt, dass er im Krankenhau­s behandelt werden muss.

 ?? Foto: Stefan Rousseau, dpa ?? Blumen für den Amtssitz des britischen Premiermin­isters in der Downing Street 10. Johnson selbst liegt im Krankenhau­s.
Foto: Stefan Rousseau, dpa Blumen für den Amtssitz des britischen Premiermin­isters in der Downing Street 10. Johnson selbst liegt im Krankenhau­s.

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