Aichacher Nachrichten

Das revolution­äre Opfer: Jesus

Das Bahnbreche­nde der Kreuzigung überzeugt sogar einen prominente­n Marxisten

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Religion ist Opium für das Volk – bekanntlic­h hat Marx das gesagt. Aber wenn es um die Kreuzigung geht, dann zeigt sich darin gerade auch für einen bekennende­n Marxisten das glatte Gegenteil von Ablenkung und Sedierung. Ein solcher nämlich ist der prominente Kulturwiss­enschaftle­r Terry Eagleton. Und im Tod Jesu liegt nach ihm gleich doppelt Revolution­äres.

Das eine ist mythisch-historisch. Denn bis dahin war das Opfer eine Gabe des Menschen zur Besänftigu­ng einer höheren Macht. In Jesus aber opfert sich der Mensch gewordene Gott selbst – und verzeiht jenen, die ihn da zu Tode foltern und damit eigentlich das Gute an sich zu meucheln. Ein erhaben heldenhaft­er Christus? Nein, spätestens in der Betrachtun­g der Kreuzigung­sszene wird nach Eagleton klar, dass es sich hier um eine Tragödie handelt, wenn der Sterbende ausruft: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“Der Autor: „Gott ist in dieser Szene als die Kraft präsent, die es Jesus ermöglicht, sich selbst zu verlassen.“

Revolution­är ist das identitäts­stiftende Selbstopfe­r – als Zeichen der Liebe. Und dieses setz sich bis heute rituell fort, der Marxist schreibt: „Die Eucharisti­e ist ein Liebesfest… Indem die Eucharisti­e an einen revolution­ären Übergang zum Tod erinnert, weil sie zum Ort des ursprüngli­chen Vergehens zurückkehr­t, bringt sie dieses rettende Ereignis als Verheißung einer emanzipier­ten Zukunft in die Gegenwart.“

Und dies ist der Übergang zum zweiten Revolution­ären, der bis in die heutige Gesellscha­ft fortwirken könnte – wäre das Bild des Opfers nicht verkommen. Eagleton: „Das Opfer ist nicht die bezaubernd­ste aller Vorstellun­gen in der Neuzeit; es ist ein Zeichen von Selbsterni­edrigung und repressive­r Entsagung.“#MeToo kennt Opfer, Mobbing lautet: „Du Opfer!“Und wenn die Herrschaft bei uns selbst bleibt und das Opfer noch positiv besetzt ist, dann als Höchstleis­tung der Selbstdisz­iplin. Man ist für ein Ziel zu geben bereit, „ein interner Sieg über die eigenen stürmische­n Wünsche“, schreibt Eagleton, und: „Das Opfer ist die dunkle Seite des Drangs zur Selbstbest­immung der Moderne.“

Eigentlich zeigt sich darin ein dramatisch­es Missverstä­ndnis. Eagleton: „Die gängige liberale Meinung hält Selbstverw­irklichung und Selbstente­ignung im Wesentlich­en für unvereinba­r. Eine radikalere Sichtweise tut das nicht. Man muss schon, wie so viele Liberale, mit der Menschheit äußerst nachsichti­g verfahren, um davon auszugehen, dass sich das Selbst entfalten kann, ohne grundlegen­de Zerschlagu­ng und Umgestaltu­ng, deren traditione­lles Zeichen das Opfer ist.“

Das gilt für den Kulturwiss­enschaftle­r im Privaten, wo gerade die Liebe nicht ohne eine wesentlich­e Komponente des Sich-Opferns gelingen kann. Es gilt aber dann auch gesellscha­ftlich und politisch, wenn das Christentu­m in der Kreuzigung zu ihrem Kern kommt: „Der Übergang vom Christentu­m zum Marxismus ist unter anderem ein Übergang von einer Vision der Armen als jene, die die Zukunft ankündigen, zu einem Glauben an sie als dem wichtigste­n Mittel zu ihrer Erreichung.“

» Terry Eagleton: Opfer – Selbsthing­abe und Befreiung. Aus dem Englischen v. Stefan Kraft, ProMedia, 176 S., 19,90 ¤

 ?? Foto: Dimitr, Adobe.Stock ?? Ein Symbol der Selbsthing­abe und der Befreiung.
Foto: Dimitr, Adobe.Stock Ein Symbol der Selbsthing­abe und der Befreiung.

Newspapers in German

Newspapers from Germany