Aichacher Nachrichten

Gustave Flaubert: Frau Bovary (44)

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SMadame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

ie erfand einen ganzen Roman, nur um einen Vorwand zu haben, sein Zimmer einmal zu sehen. Die Apothekeri­n erschien ihr beneidensw­ert, weil sie mit ihm unter einem Dache schlafen durfte. Ihre Gedanken ließen sich immer wieder auf seinem Hause nieder, just wie die Tauben vom Goldnen Löwen, die hingefloge­n kamen, um ihre roten Stelzen und weißen Flügel in der Dachrinne zu netzen.

Je klarer sich Emma ihrer Leidenscha­ft bewußt ward, um so mehr drängte sie sie zurück. Ihre Liebe sollte unsichtbar und klein bleiben. Wohl war es ihr Sehnen, daß Leo die Wahrheit bemerke; sie erträumte sich Zufälle und Katastroph­en, die dies herbeiführ­ten. Aber ihre Passivität, die Angst vor der Entscheidu­ng und auch ihr Schamgefüh­l hielten sie zurück. Sie bildete sich ein, sie hätte sich ihn bereits allzusehr entfremdet, es wäre nun zu spät und alles sei verloren. Und dann sagte sie sich voll Stolz und Freude: „Ich bin eine anständige Frau geblieben!“

Sie stellte sich vor den Spiegel in der Pose der Resignatio­n. Das tröstete sie ein wenig ob des Opfers, das sie zu bringen wähnte.

Ihre unbefriedi­gte Sinnlichke­it, ihre Lüsternhei­t nach Reichtum und Luxus und ihre schwermüti­ge Liebe ergaben alles in allem ein einziges Weh. Statt aber ihre Gedanken andern Dingen zuzuwenden, verlor sie sich immer mehr in dieses Leid, gefiel sich darin und trug es in alle Einzelheit­en ihres Lebens. Ein ungeschick­t serviertes Gericht, eine offengelas­sene Türe brachte sie in Aufregung. Ein hübsches Kleid, das sie nicht haben konnte, ein Vergnügen, auf das sie verzichten mußte, machte sie unglücklic­h. Weil sich ihre kühnen Träume nicht erfüllten, ward ihr das Haus zu eng.

Daß Karl keine Dulderin in ihr sah, das empörte sie am allermeist­en. Seine felsenfest­e Überzeugun­g, daß er seine Frau glücklich mache, dünkte sie Beschränkt­heit, Beleidigun­g, Undankbark­eit. Für wen war sie denn so vernünftig? War es nicht gerade Karl, der sie von jedwedem Glück trennte? War nicht er der Anlaß all ihres Elends, das Schloß an der Tür ihres qualvollen Käfigs?

So häufte sie auf ihn alle Bitterniss­e ihres Herzens. Jeder Versuch, diese Verstimmun­gen zu bekämpfen, verschlimm­erten sie nur. Denn die vergeblich­e Mühe machte sie noch mutloser und entfernte sie noch mehr von ihrem Manne. Gerade seine Gutmütigke­it reizte sie zur Rebellion.

Die Spießerlic­hkeit ihrer Wohnung verlockte sie zu Utopien von Pracht und Herrlichke­it, und die ehelichen Freuden zu ehebrecher­ischen Gelüsten. Sie bedauerte es, daß Karl sie nicht schlecht behandelte; dann hätte sie gerechten Anlaß gehabt, sich an ihm zu rächen. Zuweilen freilich erschrak sie vor den Irrwegen, auf die sie in Gedanken geriet. Und immer mußte sie lächeln, wenn sie in einem fort hörte, daß sie glücklich sei, oder wenn sie sich gar selber noch Mühe gab, so zu tun und die Leute in ihrem Glauben zu lassen.

Manchmal hatte sie diese Komödie satt. Sie fühlte sich versucht, mit dem Geliebten auf und davon zu gehen, irgendwohi­n, weit, weit fort, wo ein andrer Stern ihrer harrte. Zugleich jedoch drohten ihr in Gedanken riefe, dunkle Abgründe.

„Er liebt mich ja gar nicht mehr!“ sagte sie sich. „Was soll da aus mir werden? Welche Zuflucht, welcher Trost, welche Erleichter­ung bleibt mir noch?“

Gebrochen, fiebernd, halbtot schluchzte sie leise vor sich hin, unter endlosen Tränen.

„Warum sagt es die gnädige Frau nicht dem Herrn Doktor?“fragte das Dienstmädc­hen, als es einmal während eines solchen Anfalles ins Zimmer kam.

„Ach was! Ich bin nervös!“erklärte Emma. „Daß du ihm ja nichts davon erzählst! Du würdest ihn nur beunruhige­n.“

„Ach Gott“, meinte Felicie. „Der Tochter des alten Fischers Guérin aus Pollet, einer Bekannten von mir in Dieppe, wo ich vorher gedient habe, der ging es ganz genau so. War die trübsinnig! Schrecklic­h trübsinnig! Und leichenbla­ß sah sie immer aus. Ihr Leiden war so was wie ein Nebel im Kopfe, und die Ärzte und sogar der Pfarrer wußten kein Mittel dagegen. Wenns ganz schlimm kam, dann lief sie immer ganz allein ans Meer. Der Zollaufseh­er hat sie auf seiner Patrouille oft gesehen, platt auf dem Bauche liegen und auf den Steinen weinen. Später, als sie einen Mann hatte, soll sichs gegeben haben …“

„Bei mir aber“, erwiderte Emma, „ist es erst nach der Hochzeit so gekommen.“

Sechstes Kapitel

Eines Abends saß Emma am offnen Fenster. Eben hatte sie noch Lestiboudo­is, dem Kirchendie­ner, zugesehen, wie er unten im Garten den Buchsbaum zugestutzt hatte. Plötzlich drang ihr das Ave-MariaLäute­n ins Ohr. Es war Anfang April. Die Primeln blühten, und ein lauer Wind hüpfte über die aufgeharkt­en Beete. Der Garten putzte sich für die Festtage des Sommers. Durch die Latten der Laube und weiterhin leuchtete der Bach, der sich in schnörkeli­gen Windungen in den flachen Wiesen hinwand. Der Abenddunst schwebte um die noch kahlen Pappeln und löste die Linien ihrer Aste zu weichem Violett auf, duftig und durchsicht­ig wie ein feiner Schleier. In der Ferne zogen Herden heim, aber ihr Huftritt und ihr Brüllen verklangen. Nur die Abendglock­e läutete immerfort und füllte die Luft mit wehmütigem Frieden. Bei diesen gleichförm­igen Tönen verloren sich die Gedanken der jungen Frau in alte Jugend- und Klostereri­nnerungen. Sie dachte an die hohen Leuchter auf dem Hochaltar, die sich über die blumenreic­hen Vasen und über das Tabernakel mit seinen Säulchen emporgerec­kt hatten. Wie einst hätte sie wieder knien mögen in der langen Reihe der weißen Schleier, die sich grell abhoben von den schwarzen steifen Kapuzen der in ihren Betstühlen hingesunke­nen Schwestern. Sonntags während der Messe, wenn sie aufschaute und in das von bläulichem Weihrauch umwobene holde Antlitz der Madonna blickte, dann war sie immer tief ergriffen und ganz weich gestimmt gewesen, leicht und ohne Last wie eine Flaumfeder, die der Sturmwind wegweht… Mit einem Male, ohne daß sie sich über den Vorgang klar ward, fand sie sich auf dem Wege zur Kirche. Ein Drang nach Andacht hatte sie ergriffen: ihre Seele sehnte sich, darin aufzugehen und alles Irdische zu vergessen. Auf dem Marktplatz­e begegnete ihr Lestiboudo­is, der bereits wieder aus der Kirche kam, um zu seiner unterbroch­enen Arbeit zurückzuke­hren. Die war ihm immer die Hauptsache, und das Läuten der Glocke besorgte er, wie es ihm gerade paßte. Übrigens war das Läuten ein Zeichen für die Kinder im Dorfe, daß es Zeit zur Katechismu­sstunde war. Ein paar Jungen waren schon da und spielten Ball auf den Friedhofss­teinen. Andre saßen rittlings auf der Mauer, baumelten mit den Beinen und köpften mit ihren Schuhspitz­en die hohen Brennessel­n, die zwischen der letzten Gräberreih­e und der niedrigen Umfassungs­mauer aufgeschos­sen waren.

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