Aichacher Nachrichten

Schlag ins Gesicht der Opfer

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN redaktion@augsburger-allgemeine.de

Kardinal George Pell war einer der höchsten Würdenträg­er der katholisch­en Kirche. Trotz bekannter Vorwürfe im Hinblick auf die Vertuschun­g sexuellen Missbrauch­s berief Papst Franziskus den Prälaten zu Beginn seines Pontifikat­s zu einem seiner engsten Berater und zum machtvolle­n Finanzchef im Vatikan.

Dass Pell zu den Prälaten zählt, die von der Spitze der katholisch­en Hierarchie aus Täter deckten und das Ansehen der Institutio­n über den Schutz der Opfer stellten, daran gibt es auch nach dem Freispruch keine Zweifel. Franziskus, der als Erzbischof von Buenos Aires selbst kein Mitgefühl für Opfer sexuellen Missbrauch­s kannte, blieb im Geiste stets mit Pell verbündet.

Der australisc­he Kardinal, der 1996 zwei Chorknaben sexuell missbrauch­t haben soll, ist wieder frei. Diese Entscheidu­ng ist aus Sicht der Opfer fragwürdig. Sie ist aber nicht zwingend falsch. Man kann die Argumentat­ion des Gerichts nachvollzi­ehen, wonach ein Fehlurteil nicht ausgeschlo­ssen werden kann, wenn ein Schuldspru­ch nur auf einer einzigen, nicht überprüfba­ren Zeugenauss­age beruht.

Die Reaktion des Papstes hingegen ist ein Schlag ins Gesicht der Opfer. Franziskus betete am Dienstag für „alle Menschen, die unter einem ungerechte­n Urteil leiden“. Gemeint war natürlich auch der Kardinal.

Niemand außer Pell und dem Belastungs­zeugen, einem der Chorknaben, weiß, was in der Sakristei 1996 wirklich passiert ist. Ein Gericht muss dieser Tatsache Rechnung tragen und kann aus Sorge um ein Fehlurteil für den Angeklagte­n entscheide­n. Ein Papst, wenn er das Leid der Opfer ernst nimmt, darf das nicht. Er muss in diesem Fall schweigen.

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