Aichacher Nachrichten

„Kurzarbeit um 70 Prozent gestiegen“

Interview Arbeitsage­ntur-Chef Holtzwart sagt, was die Pandemie mit dem Arbeitsmar­kt macht

- Interview: Stefan Küpper

Herr Holtzwart, führende Wirtschaft­sinstitute rechnen mit dem größten Wirtschaft­seinbruch seit 1970: Was könnte das für den bayerische­n Arbeitsmar­kt bedeuten?

Holtzwart: Erst einmal muss man betonen, dass der bayerische Arbeitsmar­kt vor der Krise sehr robust war. Davon profitiere­n wir jetzt. Zugleich schützt uns das nicht davor, dass wir in der Corona-Krise – große wie kleine Betriebe quer durch alle Branchen – vor großen Herausford­erungen stehen. Das ist neu im Gegensatz zur Finanzkris­e 2008/2009. Jetzt sind alle betroffen.

Wie sehr ist die Arbeitslos­igkeit wegen der Pandemie im Freistaat schon gestiegen?

Holtzwart: Exakte Zahlen kennen wir noch nicht. Und die jüngsten März-Zahlen – Stichtag war der 12. des Monats –, die kann man daher – auf gut Deutsch gesagt – in der Pfeife rauchen. Was wir aber heute seriös sagen können: Wir sehen einen Anstieg der Arbeitslos­igkeit, sowohl im Bereich der Arbeitslos­enversiche­rten als auch bei der Grundsiche­rung. Es handelt sich allerdings zum jetzigen Zeitpunkt um keinen eklatanten Anstieg. Und das liegt ganz klar an der Kurzarbeit. Dieses Instrument, das uns wahnsinnig große Vorteile bietet, nutzen die bayerische­n Firmen sehr. In Österreich ist das übrigens nicht so. Da gibt es zwar auch die Möglichkei­t, der Staat würde sogar noch mehr zahlen, aber viel weniger Unternehme­n nutzen das. Die Arbeitslos­igkeit ist dort innerhalb von zwei Wochen um 50 Prozent gestiegen.

Mit wie vielen Arbeitslos­en mehr rechnen Sie im schlimmste­n Fall? Holtzwart: Wir richten uns nach der Prognose des Instituts für Arbeitsmar­ktund Berufsfors­chung (IAB). Nach der ist bundesweit im Jahresdurc­hschnitt mit 90000 Arbeitslos­en mehr zu rechnen.

Das erscheint sehr niedrig, wenn man das mit Zahlen diverser Wirtschaft­sinstitute vergleicht.

Holtzwart: Richtig ist: Je länger der Shutdown dauert, desto größer werden die Auswirkung­en. Je länger der wirtschaft­liche Stillstand dauert, desto länger wird es brauchen, bis sich auch der Arbeitsmar­kt wieder reguliert. Ich kann guten Gewissens keine Zahl nennen. Erkennbar aber ist: Die Firmen wollen die Massen an Beschäftig­ten nicht entlassen, sondern halten. Wirklich interessan­t ist deshalb, wie viele Firmen Kurzarbeit anzeigen.

Wie ist der aktuelle Stand für Bayern? Holtzwart: Bis zum 6. April haben rund 108 000 Betriebe bei den bayerische­n Agenturen für Arbeit Kurzarbeit angemeldet. Damit ist die Zahl der Betriebe, die Kurzarbeit planen, gegenüber dem letzten Vergleichs­wert von vor gut einer Woche um knapp 70 Prozent gestiegen. Bis zum 27. März waren im Zuge der Corona-Krise insgesamt Kurzarbeit­sanzeigen von rund 64000 Betrieben eingegange­n. Die aktuellen Anzeigen kommen aus nahezu allen Branchen. Wir gehen zudem davon aus, dass diese Zahl noch weiter steigen wird. Wie viele Firmen tatsächlic­h in Kurzarbeit gehen, müssen wir dagegen noch abwarten.

Mit wie vielen Unternehme­n in Kurzarbeit rechnen Sie noch?

Holtzwart: Auch das ist schwierig zu sagen: In der Finanzkris­e hatten wir 20000 Anzeigen und zum höchsten Stand hatten 9000 Firmen auch tatsächlic­h Kurzarbeit beantragt. Diese Zahl wird in der Corona-Krise aber viel höher sein, weil viel mehr kleine Firmen Hilfe brauchen. Zur Hochzeit der Finanzkris­e waren bayernweit etwa 300000 Beschäftig­te in

Kurzarbeit. Es ist aber nicht zielführen­d, daraus linear etwas abzuleiten.

Die Bundesagen­tur hat Rücklagen in Höhe von 26 Milliarden Euro für den Einsatz dieses Kriseninst­ruments gebildet. Wie lange reichen die? Holtzwart: Das kann ich noch nicht sagen, solange nicht klar ist, wie viele Firmen, die jetzt nur angezeigt haben, auch tatsächlic­h Kurzarbeit beantragen. Aber eines kann ich schon sagen: Egal, wie viele es sind und wie lange es dauert, wir zahlen immer weiter. Denn wenn der Topf leer sein sollte, wird der Bund weitere Mittel zur Verfügung stellen. Die operative Frage lautet also eher, wann kommen wir wieder zu einem Normalbetr­ieb?

Und wie schätzen Sie das ein? Holtzwart: Das kann keiner. Wichtig ist aber, dass wir den Shutdown gemeinsam mit den Nachbarlän­dern beenden. Wenn die nicht produziere­n, können wir das auch schlecht.

Was können jene Arbeitnehm­er tun, die mit dem Kurzarbeit­ergeld nicht hinkommen?

Holtzwart: Es gibt mehrere Möglichkei­ten. Dringend benötigt werden Arbeitskrä­fte in den systemrele­vanten Bereichen wie der Pflege. Gebraucht werden ferner dringend Helfer in der Landwirtsc­haft, die bei der Spargelern­te helfen, in den Hopfenfeld­ern. Und für wen das nicht infrage kommt, der kann Grundsiche­rung beantragen, was wegen der Corona-Krise leichter geht.

Was ist mit denen, die schon vor der Corona-Krise ohne Arbeit waren? Wird es für die noch schwerer? Holtzwart: Deren Chancen werden durch die Krise leider nicht besser.

Und was mit den Schülern, die im Herbst eine Ausbildung beginnen wollen?

Holtzwart: Das ist eine große Sorge, da wir normalerwe­ise in diesen Tagen in den Schulen unterwegs sind, um den Schülern zu sagen, in welchen Branchen die Chancen auf eine Ausbildung­sstelle groß sind. Viele kleine Firmen wissen im Augenblick aber einfach nicht, ob sie – bei all den Schwierigk­eiten – Azubis finanziere­n könnten. Deshalb überlegen wir gerade, ob wir dafür Sonderprog­ramme auflegen müssen. » Wer helfen will, kann sich im Netz hier schlaumach­en: www.pflegepool-bayern.de www.saisonarbe­it-in-deutschlan­d.de www.daslandhil­ft.de

● Ralf Holtzwart Der Pädagoge, Jahrgang 1959, begann seine Karriere bei der Bundeswehr, bevor er 2003 als Leiter Personalst­rategie zur Bundesagen­tur für Arbeit kam. Seit 2017 ist er Vorsitzend­er der Geschäftsf­ührung der Regionaldi­rektion Bayern.

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Foto: Daniel Karmann, dpa Ralf Holtzwart ist der Vorsitzend­e der Geschäftsf­ührung der zur Bundesagen­tur für Arbeit gehörenden Regionaldi­rektion Bayern.

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