„Kurzarbeit um 70 Prozent gestiegen“
Interview Arbeitsagentur-Chef Holtzwart sagt, was die Pandemie mit dem Arbeitsmarkt macht
Herr Holtzwart, führende Wirtschaftsinstitute rechnen mit dem größten Wirtschaftseinbruch seit 1970: Was könnte das für den bayerischen Arbeitsmarkt bedeuten?
Holtzwart: Erst einmal muss man betonen, dass der bayerische Arbeitsmarkt vor der Krise sehr robust war. Davon profitieren wir jetzt. Zugleich schützt uns das nicht davor, dass wir in der Corona-Krise – große wie kleine Betriebe quer durch alle Branchen – vor großen Herausforderungen stehen. Das ist neu im Gegensatz zur Finanzkrise 2008/2009. Jetzt sind alle betroffen.
Wie sehr ist die Arbeitslosigkeit wegen der Pandemie im Freistaat schon gestiegen?
Holtzwart: Exakte Zahlen kennen wir noch nicht. Und die jüngsten März-Zahlen – Stichtag war der 12. des Monats –, die kann man daher – auf gut Deutsch gesagt – in der Pfeife rauchen. Was wir aber heute seriös sagen können: Wir sehen einen Anstieg der Arbeitslosigkeit, sowohl im Bereich der Arbeitslosenversicherten als auch bei der Grundsicherung. Es handelt sich allerdings zum jetzigen Zeitpunkt um keinen eklatanten Anstieg. Und das liegt ganz klar an der Kurzarbeit. Dieses Instrument, das uns wahnsinnig große Vorteile bietet, nutzen die bayerischen Firmen sehr. In Österreich ist das übrigens nicht so. Da gibt es zwar auch die Möglichkeit, der Staat würde sogar noch mehr zahlen, aber viel weniger Unternehmen nutzen das. Die Arbeitslosigkeit ist dort innerhalb von zwei Wochen um 50 Prozent gestiegen.
Mit wie vielen Arbeitslosen mehr rechnen Sie im schlimmsten Fall? Holtzwart: Wir richten uns nach der Prognose des Instituts für Arbeitsmarktund Berufsforschung (IAB). Nach der ist bundesweit im Jahresdurchschnitt mit 90000 Arbeitslosen mehr zu rechnen.
Das erscheint sehr niedrig, wenn man das mit Zahlen diverser Wirtschaftsinstitute vergleicht.
Holtzwart: Richtig ist: Je länger der Shutdown dauert, desto größer werden die Auswirkungen. Je länger der wirtschaftliche Stillstand dauert, desto länger wird es brauchen, bis sich auch der Arbeitsmarkt wieder reguliert. Ich kann guten Gewissens keine Zahl nennen. Erkennbar aber ist: Die Firmen wollen die Massen an Beschäftigten nicht entlassen, sondern halten. Wirklich interessant ist deshalb, wie viele Firmen Kurzarbeit anzeigen.
Wie ist der aktuelle Stand für Bayern? Holtzwart: Bis zum 6. April haben rund 108 000 Betriebe bei den bayerischen Agenturen für Arbeit Kurzarbeit angemeldet. Damit ist die Zahl der Betriebe, die Kurzarbeit planen, gegenüber dem letzten Vergleichswert von vor gut einer Woche um knapp 70 Prozent gestiegen. Bis zum 27. März waren im Zuge der Corona-Krise insgesamt Kurzarbeitsanzeigen von rund 64000 Betrieben eingegangen. Die aktuellen Anzeigen kommen aus nahezu allen Branchen. Wir gehen zudem davon aus, dass diese Zahl noch weiter steigen wird. Wie viele Firmen tatsächlich in Kurzarbeit gehen, müssen wir dagegen noch abwarten.
Mit wie vielen Unternehmen in Kurzarbeit rechnen Sie noch?
Holtzwart: Auch das ist schwierig zu sagen: In der Finanzkrise hatten wir 20000 Anzeigen und zum höchsten Stand hatten 9000 Firmen auch tatsächlich Kurzarbeit beantragt. Diese Zahl wird in der Corona-Krise aber viel höher sein, weil viel mehr kleine Firmen Hilfe brauchen. Zur Hochzeit der Finanzkrise waren bayernweit etwa 300000 Beschäftigte in
Kurzarbeit. Es ist aber nicht zielführend, daraus linear etwas abzuleiten.
Die Bundesagentur hat Rücklagen in Höhe von 26 Milliarden Euro für den Einsatz dieses Kriseninstruments gebildet. Wie lange reichen die? Holtzwart: Das kann ich noch nicht sagen, solange nicht klar ist, wie viele Firmen, die jetzt nur angezeigt haben, auch tatsächlich Kurzarbeit beantragen. Aber eines kann ich schon sagen: Egal, wie viele es sind und wie lange es dauert, wir zahlen immer weiter. Denn wenn der Topf leer sein sollte, wird der Bund weitere Mittel zur Verfügung stellen. Die operative Frage lautet also eher, wann kommen wir wieder zu einem Normalbetrieb?
Und wie schätzen Sie das ein? Holtzwart: Das kann keiner. Wichtig ist aber, dass wir den Shutdown gemeinsam mit den Nachbarländern beenden. Wenn die nicht produzieren, können wir das auch schlecht.
Was können jene Arbeitnehmer tun, die mit dem Kurzarbeitergeld nicht hinkommen?
Holtzwart: Es gibt mehrere Möglichkeiten. Dringend benötigt werden Arbeitskräfte in den systemrelevanten Bereichen wie der Pflege. Gebraucht werden ferner dringend Helfer in der Landwirtschaft, die bei der Spargelernte helfen, in den Hopfenfeldern. Und für wen das nicht infrage kommt, der kann Grundsicherung beantragen, was wegen der Corona-Krise leichter geht.
Was ist mit denen, die schon vor der Corona-Krise ohne Arbeit waren? Wird es für die noch schwerer? Holtzwart: Deren Chancen werden durch die Krise leider nicht besser.
Und was mit den Schülern, die im Herbst eine Ausbildung beginnen wollen?
Holtzwart: Das ist eine große Sorge, da wir normalerweise in diesen Tagen in den Schulen unterwegs sind, um den Schülern zu sagen, in welchen Branchen die Chancen auf eine Ausbildungsstelle groß sind. Viele kleine Firmen wissen im Augenblick aber einfach nicht, ob sie – bei all den Schwierigkeiten – Azubis finanzieren könnten. Deshalb überlegen wir gerade, ob wir dafür Sonderprogramme auflegen müssen. » Wer helfen will, kann sich im Netz hier schlaumachen: www.pflegepool-bayern.de www.saisonarbeit-in-deutschland.de www.daslandhilft.de
● Ralf Holtzwart Der Pädagoge, Jahrgang 1959, begann seine Karriere bei der Bundeswehr, bevor er 2003 als Leiter Personalstrategie zur Bundesagentur für Arbeit kam. Seit 2017 ist er Vorsitzender der Geschäftsführung der Regionaldirektion Bayern.