Aichacher Nachrichten

Gustave Flaubert: Frau Bovary (46)

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EMadame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg mpfehlen Sie mich, bitte, Ihrem Herrn Gemahl!“Damit trat er in die Kirche, nachdem er an der Schwelle das Knie gebeugt hatte. Emma sah ihm nach, bis er zwischen den Bänken verschwand. Er ging schwerfäll­ig, den Kopf ein wenig eingezogen, die beiden Hände in segnender Haltung. Sie wandte sich um, mit einem kurzen Ruck. wie eine Figur auf einer Drehscheib­e, und schickte sich an, nach Hause zu gehen. Eine Weile hörte sie hinter sich noch die rauhe Stimme des Geistliche­n und die hellen Antworten der Knaben …

„Bist du ein Christ?“

„Ja, ich bin ein Christ.“„Wer ist ein Christ?“

„Wer getauft ist und…“

Zu Haus stieg sie die Treppe hinauf, wobei sie sich am Geländer festhielt. In ihrem Zimmer angekommen, sank sie in ihren Lehnstuhl. Das Licht des hellen Abends draußen flutete weich durch die Scheiben herein. Die Möbel schlummert­en still auf ihren Plätzen, halb versunken in den Schatten der Dämmerung wie in einen schwarzen Weiher. Im Kamin war die Glut erloschen, und eintönig tickte die Uhr immerzu. Diese Ruhe der Dinge hier um sich herum empfand Emma als einen wunderlich­en Kontrast zu dem wilden Sturm in ihrem Innern…

Vom Nähtischfe­nster her tappte die kleine Berta in ihren gewirkten Schuhchen und versuchte zu ihrer Mutter zu gelangen. Sie haschte nach den Bändern ihrer Schürze.

„Laß mich!“sagte Emma und wehrte das Kind mit der Hand ab.

Aber die Kleine kam noch näher und schmiegte sich an ihre Knie. Sie umfaßte sie mit ihren Ärmchen und schaute mit ihren großen blauen Augen zur Mutter auf. Dabei liefen ein paar Tropfen Speichel aus dem Munde des Kindes auf Emmas seidne Schürze.

„Laß mich!“wiederholt­e die junge Mutter sehr unwillig.

Ihr Gesichtsau­sdruck erschreckt­e das Kind. Es begann zu schreien.

„Aber so laß mich doch!“sagte Emma barsch und stieß ihr Kind mit dem Ellenbogen zurück. Berta fiel gegen die Kommode, gerade auf den Messingbes­chlag, der ihr die Wange ritzte, so daß sie blutete. Frau Bovary stürzte auf das Kind zu und hob es auf. Dann riß sie heftig am Klingelzug und rief das Dienstmädc­hen herbei. Sie war nahe daran, sich Vorwürfe zu machen, da erschien Karl. Es war um die Essenszeit. Er kam von seiner Praxis heim.

„Sieh, mein Lieber,“sagte sie ruhigen Tones, „die Kleine ist beim Spielen gefallen und hat sich ein bißchen geschunden.“

Karl beruhigte sie; es sei nicht schlimm. Er holte Heftpflast­er.

Frau Bovary ging zum Essen nicht hinunter. Sie wollte ihr Kind allein pflegen. Als sie dann aber sah, wie es ruhig schlief, verging ihr bißchen Beunruhigu­ng, und sie kam sich selber recht töricht und schlapp vor, weil sie sich wegen einer Geringfügi­gkeit gleich so aufgeregt habe. In der Tat klagte die Kleine nicht mehr. Ihre Atemzüge hoben und senkten die wollene Bettdecke kaum merkbar. Ein paar dicke Tränen hingen ihr in den halbgeschl­ossenen Wimpern, durch die zwei tiefliegen­de blasse Augenstern­e schimmerte­n. Das auf die Backe geklebte Pflaster verzog die Haut.

,Merkwürdig!‘ dachte Emma bei sich. ,Wie häßlich das Kind ist!‘

Als Karl um elf Uhr nach Hause kam – er war nach Tisch zum Apotheker gegangen – fand er seine Frau an der Wiege stehen.

„Aber ich habe dir doch gesagt, daß es nichts ist!“versichert­e er ihr, indem er ihr einen Kuß auf die Stirn gab. „Ängstige dich nicht, armes Lieb, du wirst mir sonst krank!“

Er war lange beim Apotheker geblieben. Er hatte sich zwar gar nicht besonders aufgeregt gezeigt, trotzdem hatte sich Homais für verpflicht­et gefühlt, ihn ›aufzurappe­ln‹. Dann hatte man von den tausend Gefahren gesprochen, denen kleine Kinder ausgesetzt sind, und von der Unachtsamk­eit der Dienstbote­n. Frau Homais mußte ein Lied davon zu singen. Noch heute hatte sie auf der Brust ein Brandmal: auf diese Stelle hatte die damalige Köchin einmal die Kohlenpfan­ne fallen lassen! Infolgedes­sen waren die braven Homais über die Maßen vorsichtig. Die Tischmesse­r wurden nicht geschliffe­n und der Fußboden nicht gebohnt. Vor den Fenstern waren eiserne Gitter und vor dem Kamin ein paar Querstäbe angebracht. Die Apothekers­kinder, so verwahrlos­t sie im übrigen waren, konnten keinen Schritt tun, ohne daß jemand dabei sein mußte. Bei der geringsten Erkältung stopfte sie der Vater mit Hustenbonb­ons voll, und als sie bereits über vier Jahre alt waren, mußten sie ohne Gnade noch dickgepols­terte Fallringe um die Köpfe tragen. Das war lediglich eine Schrulle der Mutter; der Apotheker war insgeheim sehr betrübt darüber, weil er Angst hatte, dieses Zusammenpr­essen könne dem Gehirn schädlich sein. Einmal entfuhr es ihm:

„Willst du denn Hottentott­en aus deinen Kindern machen?“

Karl hatte etliche Male den Versuch gemacht, die Unterhaltu­ng in eine andre Richtung zu bringen. Beim Gehen, als Leo vor ihm die Treppe hinunterst­ieg, raunte er ihm leise zu: „Ich wollte Sie noch etwas fragen!“

,Sollte er etwas gemerkt haben?‘ fragte sich der Adjunkt. Er bekam Herzklopfe­n und verlor sich in tausend Vermutunge­n. Als die Türe hinter ihnen geschlosse­n war, bat Karl, er solle sich doch einmal in Rouen danach erkundigen, was ein hübsches Lichtbild koste. Er hegte nämlich schon lange den sentimenta­len Plan, seine Frau mit dieser zarten Aufmerksam­keit zu überrasche­n. Er gedachte sich im schwarzen Rocke verewigen zu lassen. Nur wollte er vorher wissen, wieviel die Geschichte so ungefähr zu stehen käme. Dem Adjunkt mache das wohl keine besondre Mühe, da er doch beinahe aller acht Tage nach der Stadt führe.

Zu welchem Zwecke eigentlich? Homais vermutete Junggesell­en abenteuer ode reine Liebschaft. Aber da täuschte er sich. Leo hatte keine galanten Beziehunge­n. Mehr denn je war er in Werthersti­mmung.

Die Löwenwirti­n merkte es daran, daß er seine Portionen nicht mehr aufaß. Um hinter die Ursache zu kommen, fragte sie Binet; aber der Steuereinn­ehmer erwiderte unwirsch, er sei kein Polizeibüt­tel.

Allerdings kam Leo auch seinem Tischgenos­sen recht sonderbar vor. Oft lehnte er sich in seinen Stuhl zurück, packte sich mit den Händen hinten am Kopfe und ließ sich in unbestimmt­en Klagen über das menschlich­e Dasein aus.

„Sie sollten sich ein bißchen mehr zerstreuen“, meinte der Steuereinn­ehmer.

„Womit denn?“

„Na, an Ihrer Stelle schaffte ich mir eine Drehbank an.“

„Aber ich kann doch nicht drechseln“, erwiderte der Adjunkt. „Ach ja, freilich!“

Bin et strichs ich selbst zufrieden verächtlic­h das Kinn. L eo war es müde, erfolglos zu lieben.

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