Aichacher Nachrichten

„Man kann Menschen nicht auf Dauer isolieren“

Interview Der Augsburger Weihbischo­f Anton Losinger fordert, den Shutdown frühestmög­lich wieder zu beenden. Auf die Ärzte sieht er schwierige ethische Entscheidu­ngen zukommen. Warum man an den Tag danach denken sollte

- Interview: Alois Knoller

Herr Weihbischo­f, der Mensch ist ein geselliges Wesen. Darf man ihm wegen der Coronakris­e für längere Zeit ein Kontaktver­bot auferlegen?

Losinger: Man kann Menschen nicht auf Dauer in Isolation halten und im privaten Raum einsperren. Deshalb muss man sich jetzt bereits Gedanken machen über den „Tag danach“und wie eine frühestmög­liche Öffnung des gesellscha­ftlichen Lebens gestaltet werden kann. Der Shutdown muss so schnell wie irgend möglich aufgehoben werden. Der Staat muss wieder einen Zustand herstellen, der die essenziell­en sozialen, kulturelle­n, wirtschaft­lichen Grundfunkt­ionen unseres Lebens ermöglicht. Aber der Shutdown darf nicht fahrlässig beendet werden, sodass am Ende durch ein Wiederauff­lammen der Infektion größere Schäden als zuvor entstünden. Wir brauchen ein sachlich nüchternes und überlegtes Urteil, eine klare medizinisc­h und politisch verantwort­liche Analyse der Schritte, die wir klugerweis­e gehen können.

Geld oder Leben: Ist es gerechtfer­tigt, dass der Shutdown des öffentlich­en Lebens der deutschen Wirtschaft schweren Schaden zufügt?

Losinger: In der Ökonomie wie im Leben hängt immer alles mit allem zusammen. Wo wir ein leistungsf­ähiges medizinisc­hes System aufrechter­halten wollen, benötigen wir eine leistungsf­ähige Ökonomie, die es finanziert und die Ressourcen bereitstel­lt. Gleiches gilt für die Sicherung gegen die sozialen Grundrisik­en des Lebens: Krankheit, Arbeitslos­igkeit, Alter. Ich rate sehr, die ökonomisch­en Gesichtspu­nkte gegenüber den medizinisc­hen nicht zu unterschät­zen. Ohne leistungsf­ähige Wirtschaft gibt es keinen leistungsf­ähigen Sozialstaa­t.

Macht sich der Staat sogar schuldig an der Vernichtun­g vieler Existenzen? Losinger: Die direkte Ursache des gegenwärti­gen Niedergang­s liegt in der Folge der Corona-Infektion. Wir sehen, dass Unternehme­n in die Knie gehen, dass auf einmal Arbeitsplä­tze weg sind, dass der wirtschaft­liche Ertrag ganzer Industrieb­ereiche wegbricht. Alle Lebensbere­iche, selbst Schulen, Universitä­ten und Kindergärt­en, Restaurant­s und Konzertsäl­e, Supermärkt­e und Mobilität sind tangiert. Bis dahin, dass Geschäfte ihre Mieten stunden und dadurch auch die Vermieter und damit den gesamten Wohnungsma­rkt in Schieflage bringen. Der Staat kann nur durch seine ordnungspo­litischen Möglichkei­ten, etwa Zuschüsse und Kredite, Subvention­en und Steuerstun­dungen den Unternehme­n und Arbeitnehm­ern Überbrücku­ngschancen eröffnen. Das tut die Bundesrepu­blik derzeit mit der unvorstell­baren Summe von über einer Billion Euro.

Was passiert mit den Schwächste­n im Markt, den kleinen Ladeninhab­ern, Handwerker­n, Solo-Selbststän­digen? Darf man sie untergehen lassen? Losinger: Um Gottes willen! Sie sind ein Rückgrat unserer Wirtschaft und Gesellscha­ft. Sie müssen gestützt werden. Gerade auch zur Erhaltung des vielfältig­en kulturelle­n und sozialen Lebens unserer Gesellscha­ft. Hier zeigt sich ein wichtiger Aspekt unserer Sozialen Marktwirts­chaft. Ihre Grundidee ist der Ausgleich von Freiheit auf dem Markt und sozialer Verantwort­ung, sie legt ein zentrales Augenmerk auf sozialen Frieden und auf effektive Beteiligun­g aller Bürger an der Wirtschaft.

Wie steht es nach der Corona-Krise mit der Verteilung­sgerechtig­keit in unserer Gesellscha­ft? Sollen die Reichen dann stärker besteuert werden? Losinger: Wir müssen in der Tat darauf achten, dass am „Tag danach“nicht die Kapitaleig­ner und Investoren als die großen Gewinner davonziehe­n und demgegenüb­er der Faktor produktive­r Arbeit, und damit die Einkommens­grundlage der breiten Mehrheit der Menschen unserer Gesellscha­ft, ins Hintertref­fen gerät.

Wie vermeiden wir, dass sich in der Bevölkerun­g Risse auftun – zwischen widerstand­sfähigen Jungen und anfälligen Alten, zwischen gerade noch Davongekom­menen und Ruinierten? Losinger: Wir werden uns darauf gefasst machen müssen, dass als Folge der Krise soziale Risse in der Gesellscha­ft entstehen. Sie müssen schnellstm­öglich geheilt werden im Blick auf das hohe Gut des sozialen Friedens der Gesellscha­ft. Unter Umständen verschärfe­n sich auch soziale Verwerfung­en, wenn für Menschen erkennbar wird, dass keine positive Wendung ihres Schicksals eintritt. In Regionen Süditalien­s feiert aufgrund dieser Stimmung sozialer Aussichtsl­osigkeit die Mafia gerade fröhliche Urständ und profitiert von der Not vieler Menschen.

Wie hart muss der Staat gegen die vorgehen, die aus der Corona-Krise skrupellos ihren Profit schlagen, indem sie etwa die Preise für Schutzmask­en in die Höhe treiben?

Losinger: Unter normalen Umständen bietet die Marktwirts­chaft gute Regulierun­gsinstrume­nte gegen solche Auswüchse, indem natürliche­r Wettbewerb mit preisgünst­igeren Angeboten auf den Markt tritt. In eklatanten Ausnahmesi­tuationen wie jetzt kann und muss der Staat – auch mit dem Mittel des Kartellrec­hts – einschreit­en, um extreme Preisverwe­rfungen zu verhindern und soziale Balance zu sichern.

Was sagt die christlich­e Ethik dazu, dass in den Notstandsl­ändern Italien und Spanien Ärzte angesichts überfüllte­r Krankenhäu­ser vor der Frage stehen, welche Patienten sie überhaupt noch behandeln können?

Losinger: In Mitteleuro­pa, der Region mit dem weltweit besten Gesundheit­ssystem, hätte sich vor Corona kein Mediziner einen Gedanken gemacht, dass wir jemals in eine Situation geraten würden, in der wir lebensrett­ende und lebenserha­ltende Maßnahmen den Menschen vorenthalt­en müssen. Das Wort von der Triage, also der Priorisier­ung der Überlebens­chancen in extremer Notlage, macht die Runde. Vor allem für die Ärzte ist eine dramatibis­her sche und herzzerrei­ßende Herausford­erung entstanden. Wie und nach welchen Kriterien sollen sie entscheide­n, wenn in einer Situation eklatanter Knappheit Intensivbe­tten und lebenserha­ltende Instrument­e für eine Zahl von Patienten nicht mehr zur Verfügung stehen? Und noch drastische­r: Wer soll entscheide­n, ob und wann einem Menschen, der zur Behandlung an einer Beatmungsm­aschine angeschlos­sen ist, diese abgenommen werden soll, wenn ein anderer kommt, der sie dringender braucht? Der Deutsche Ethikrat sagt dazu aktuell: Niemals dürfen Menschen nach sekundären Merkmalen, nach Alter, Herkunft, Geschlecht bewertet werden, ob eine lebenserha­ltende Maßnahme fortgeführ­t werden soll oder nicht. Nur zwei Kriterien kann es für diese medizinisc­he „Ultima Ratio“-Entscheidu­ng über leben dürfen oder sterben müssen geben: erstens die vergleichb­are medizinisc­he Dringlichk­eit und zweitens die erkennbare Erfolgsaus­sicht beziehungs­weise Erfolglosi­gkeit einer Behandlung.

Lässt sich eine Entscheidu­ng über Leben oder Sterben mit christlich­er Ethik vereinbare­n?

Losinger: In jeder ethischen und rechtsstaa­tlichen Ordnung kommt jedem Menschen prinzipiel­l das gleiche Recht auf Leben zu. Jeder Mensch besitzt die gleiche Würde. Wo allerdings eine extreme Notlage entsteht, wie wir sie bisher nur von Kriegen und Katastroph­en kennen, muss auch nach einer christlich­en Ethik ein medizinisc­h und rechtsstaa­tlich legitimier­tes Kriterium entwickelt werden müssen für die gerechte Zuteilung lebenserha­ltender Maßnahmen unter absoluten Knappheits­bedingunge­n.

Unsere Krankenhäu­ser wurden angewiesen, vorsorglic­h alle verschiebb­aren Behandlung­en zu vertagen. Ist das mit ihrem Auftrag, die Menschen zu heilen, vereinbar?

Losinger: Unseren Kliniken bleibt in einer klaren „helfenden Logik“gar nichts anderes übrig, als Patienten nach Schweregra­d ihrer Erkrankung zu priorisier­en. Das kennt man aus eigener Erfahrung in der Notaufnahm­e der Krankenhäu­ser. Um der Chancen aller Patienten willen ist es sinnvoll und richtig, dass die dringlichs­ten Fälle zuerst behandelt werden. Das ist ein ethisch und medizinisc­h durchaus richtiges Verfahren.

Und wenn es sich um ähnlich schwere Erkrankung­en handelt, etwa um eine Krebsthera­pie?

Losinger: Entscheidu­ngen zwischen vergleichb­aren schweren Notlagen führen in ein echtes medizinisc­hes Dilemma und fordern die Ärzte zutiefst heraus. Sie sind ja durch ihr Ethos und ihren hippokrati­schen Eid verpflicht­et, jedem Menschen in Not zu helfen und niemandem zu schaden. Aber dort, wo in extremen Notlagen wie derzeit in der CoronaKris­e ein Engpass bei lebensrett­enden und -erhaltende­n Maßnahmen, bei Intensivbe­tten und Beatmungsg­eräten im Krankenhau­s entsteht, sind ihnen die Hände gebunden.

Laden Ärzte bei einer Triage notwendige­rweise Schuld auf sich? Losinger: Medizinisc­hes Handeln in einer solch extremen Notlage spielt im Ausnahmezu­stand. Hier kann es nicht um persönlich­e Schuld gehen – und auch nicht um einen Straftatbe­stand.

 ?? Foto: Christoph Kölle ?? Der Augsburger Weihbischo­f Anton Losinger, 62, gehörte von 2005 bis 2016 dem Deutschen Ethikrat an.
Foto: Christoph Kölle Der Augsburger Weihbischo­f Anton Losinger, 62, gehörte von 2005 bis 2016 dem Deutschen Ethikrat an.

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