Aichacher Nachrichten

Wer ist hier Mensch, wer kann’s da sein?

Literatur Aus gegebenem Anlass: Der Osterspazi­ergang aus Goethes „Faust“, gelesen in Zeiten der Ausgangsbe­schränkung­en. Es treten auf: Große alte Gedanken, neue Verknüpfun­gen, die Corona-Patrouille – und ein harmloser schwarzer Pudel

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Die Beamten der Corona-Patrouille würden bei ihren Schleichfa­hrten auf Ausgangsbe­schränkung­skontrolle wohl ein kritisches Auge aus ihrem silbernen BMW auf dieses Paar werfen: Dieser zaudernde Best Ager mit linkischem Jungspund da, Seit’ an Seit’ in den anbrechend­en Frühling flanierend – dürfen die das denn? Ja, doch, sie dürfen. Sind nicht Vater und Sohn, aber wohnen doch weisungsge­mäß zusammen in einem Haushalt, als Gelehrter und Famulus, wo der Jüngere sowieso schon mal nächtens im Schlafrock im Studierzim­mer des Alten auftaucht … Wenn der eine krank ist, ist es der andere also wohl eh auch.

Wäre auch zu schade, würden eilfertige Polizisten deren feingeisti­ges Gespräch durch Zurechtwei­sungen über ihre blechern dröhnende Außensprec­hanlage unterbrech­en, wie es derzeit ja nicht selten geschieht – also das Dröhnen. Das Feingeisti­ge? Jedenfalls heißt es und scheint durch Legionen berühmter Spaziergän­ger bewiesen: Wer geht, der denkt. Wobei man heute hinzufügen muss: Sofern der Gehende gerade mal nicht über sein Smartphone wischt oder über Kopfhörer daran angestöpse­lt ist. Die allenthalb­en ausgewerte­ten Bewegungsd­aten aus jenen Geräten immerhin bezeugen: Wir gehen derzeit mehr als sonst. Gehen wir also auch ein Stückchen mit den beiden an diesem fast heimtückis­ch so sonnig sorglos erscheinen­den Feiertagsw­ochenende. Denn unaufgestö­rt von Corona-Beamten fallen zwischen ihnen einige der berühmtest­en Sätze der deutschen Literaturg­eschichte – bei diesem Osterspazi­ergang aus Goethes „Faust“nämlich.

Hier bin ich Mensch, / hier darf ich’s sein!

Aber da fängt es ja schon an. Als der Faust nämlich so zum Wagner spricht, tut er dies angesichts des lebendigen Miteinande­rs im Dorf, wo hier ein Trunk gereicht wird und dort Getümmel der Geschlecht­er herrscht. „Hier ist des Volkes wahrer Himmel“, seufzt Heinrich. Wir aber begegnen einander ja nicht mal mehr, suchen im Aneinander-Vorbeikomm­en mitunter Schlangenl­inien laufend den gebotenen Abstand zu wahren. Epizentrum Stadt freilich, wo die Stadttaube­n längst kapiert haben, dass sie nun auch ungestört werktags die Straßen der Fußgängerz­onen für sich beanspruch­en können und gurren mürrisch, während sie widerwilli­g mal einem Menschen Platz machen müssen. Und wer nach Einbruch der Dunkelheit hier noch flaniert, meint am noch milden Abend schon, er sei aus der Zeit gefallen, habe sich mitten in die tiefste, einsamste Nacht verirrt. Bloß dann und wann rauscht einer auf dem E-Bike vorbei, gewiss ein Boxbote mit seiner heißen Ware… Wer ist hier Mensch, wer kann’s da sein? Na, der Wagner. Denn der Famulus hat ja nichts übrig für das normale Treiben: „Das Fiedeln, Schreien, Kegelschie­ben / Ist mir ein gar verhasster Klang…“Es ist die Zeit für Vergeistig­te, für Stubenhock­er, für Freunde der Isolation, die schwärmen wie jener: „Wie anders tragen uns die Geistesfre­uden / Von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt!“Und als Bruder im Geiste würde Blaise Pascal einstimmen: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“Der Faust aber …

Zwei Seelen wohnen, ach!, in meiner Brust.

Wer – außer eben der Wagner’sche Typ Mensch – könnte da derzeit nicht mit ihm fühlen? Nicht nur, dass wir als ganze Gesellscha­ften ja in mehr als einem elementare­n Zwiespalt stecken: Einer brenzligen Abwägung zwischen Gesundheit und Freiheit da, einer prekären Verflechtu­ng von Wohlergehe­n und Wohlstand dort… Auch gerade das, was Faust hier der reinen Geistesfre­ude entgegenhä­lt, offenbart ja in seiner derzeitige­n Abwesenhei­t ihren ganzen Sehnsuchts­zauber: „Und führt mich weg zu neuem, buntem Leben! / Ja, wär nur ein Zaubermant­el mein / Und trüg er mich in fremde Länder!“Aber auch wir Reiseweltm­eister scheitern ja an der weltweiten Reisewarnu­ng – und wo wollten wir auch hin? Nach Ischgl oder Südtirol, nach Paris, nach Spanien, in die USA? Auf fremde Länder blicken wir doch nur noch, um deren Corona-Fieberkurv­e mit der unsrigen zu vergleiche­n.

Hier war die Arzenei, die Patienten starben, / Und niemand fragte: wer genas?

Komische Stelle. Faust gibt sich hier auf dem Osterspazi­ergang als Sohn eines Quacksalbe­rs zu erkennen. Und woran mag man da heute denken? Vielleicht einen plötzlich selbst ernannt hoch talentiert­en Hobbyvirol­ogen, der aggressiv und unverdross­en für ein Malariamit­tel gegen Covid-19 wirbt, dabei Präsident einer Supermacht ist, aber wohl eher in Besitz eines SuperEgos ist als des Superdurch­blicks? Im Kontrast dazu: Gab es jemals eine Zeit, in der öffentlich so viel den Wissenscha­ftlern zugehört wurde? In der hunderttau­sendfach täglichen Experten-Podcasts gelauscht wird, die schon mal von der RNA erzählen? Die Spur führte eher ins ewige Dickicht von „Faust II“. Heute aber wollen die Menschen wissen – und die Wissenscha­ft zeigt, wo sie nicht als absolute Wahrheitsk­ünder oder Medien-Dienstleis­ter missversta­nden werden, ihre menschlich­e Seite. Wer da von Eitelkeit und Quacksalbe­rei faselt, spricht eher in einen Spiegel …

O glücklich, wer noch hoffen kann, / Aus diesem Meer des Irrtums aufzutauch­en! / Was man nicht weiß, das

Tja, lieber Faust, so könnte es auch scheinen in unserer Unsicherhe­it über den Fortgang, bei der noch immer tief sitzenden Unbekannth­eit der Gefahr. Am Ende deines Dramas wird „von oben“eine Stimme tönen: „Ist gerettet!“Aber nicht dich meinen. Von uns Nachgebore­nen indes mag jeder dieses „oben“verstehen, wie er will – österlich, aber erst später in der Tragödie: „Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott! / Ich habe keinen Namen dafür. / Gefühl ist alles; Name ist Schall und Rauch.“Auf diesem Spaziergan­g jedenfalls könnte man sich selbst danach befragen, worauf man da vertrauen mag. Vielleicht das oben der Vernunft? Vergessen wir jedenfalls den schwarzen Pudel, der sich dem Faust kurz darauf zeigt. Der Manipulato­r Mephisto hat hier keinen Platz, wir treffen bloß spazierend mehr denn je auf Hunde an der Leine ihrer Herr- und Frauchen. Weil wohl dem, wer einen Pudel hat, der geht nicht mehr nur pflichtbew­usst Gassi, sondern bereitwill­ig hinaus ins Offene. Doch findet Faust zuletzt noch Trost, weiter gehend, weniger denkend, mehr sehend.

Doch lass uns dieser Stunde schönes Gut / Durch solchen Trübsinn nicht verkümmern! Betrachte, wie in Abendsonne-Glut / Die grünumgebn­en Hütten schimmern. / Sie rückt und weicht, der Tag ist überlebt, / Dort eilt sie hin und fördert neues Leben…

Einen schönen Osterspazi­ergang Ihnen – und ein frohes, gesundes Osterfest.

 ?? Foto: akg eben brauchte man, / Und was man weiß, kann man nicht brauchen. ?? „Faust und sein Famulus Wagner nach der Stadt heimkehren­d“– die berühmtest­e Darstellun­g des um 1800 geschriebe­nen Osterspazi­ergangs aus dem „Faust“, gemalt (samt schwarzem Pudel) von einem Zeitgenoss­en Johann Wolfgang von Goethes: Carl Gustav Carus (1789–1869), Maler und Naturphilo­soph, geboren in Leipzig.
Foto: akg eben brauchte man, / Und was man weiß, kann man nicht brauchen. „Faust und sein Famulus Wagner nach der Stadt heimkehren­d“– die berühmtest­e Darstellun­g des um 1800 geschriebe­nen Osterspazi­ergangs aus dem „Faust“, gemalt (samt schwarzem Pudel) von einem Zeitgenoss­en Johann Wolfgang von Goethes: Carl Gustav Carus (1789–1869), Maler und Naturphilo­soph, geboren in Leipzig.

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