Aichacher Nachrichten

Eine Auszeit im Schreberga­rten

Freizeit Wohl dem, der in Corona-Zeiten in der Natur zu tun hat. Das Gärtnern hinter den Hecken lenkt ab, heitert auf und produziert Lebensmitt­el. Auch wenn die Nachbarsch­aft auf Distanz geht

- VON STEFANIE SCHOENE

Rosi Slavko schneidet die Spaliertra­ube. Die letzten Frostnächt­e haben den jungen Trieben zugesetzt. Sie sind erfroren und abgestorbe­n. Ein Jahrzehnt hat Slavko den etwa 1,80 Meter hohen Stock, der ihren Schreberga­rten von dem der Nachbarin trennt, geschnitte­n und erzogen. So eine Weinrebe macht sich nicht von allein. „Ich glaube, die ist hinüber. Schade. Naja, pflanzen wir einen neuen“, sagt die 77-Jährige resolut. Seit 16 Jahren bearbeiten sie und ihr Mann Vuko die etwa 200 Quadratmet­er große Parzelle in einem der kleinen Querwege der Anlage am Siebentisc­hwald. Den roten Mangold haben sie vor zwei Wochen unter der Folie eingepflan­zt, das selbst gebaute Minigewäch­shaus daneben schützt Salat und Paprika. Der Knoblauch draußen im Beet hat auch erfrorene Spitzen. „Nicht schlimm“, winkt sie ab, „der hält das aus.“

110 Nachbarn haben sie hier. Ist das Miteinande­r anders als vor drei Wochen? „Natürlich! Wir halten jetzt halt viel Abstand, wir gehören

zur Risikogrup­pe“, erklärt sie. Und über Hecken hinweg zu plaudern sei merkwürdig, wenn man es doch gewohnt sei, mit dem Ehepaar von nebenan jeden Tag zusammenzu­sitzen.

Die plötzlich geforderte Distanz macht auch Celali Sari zu schaffen. Zumal sie seinen Job bedroht. Er ist Arbeiter auf dem Terminal 2 des Münchner Flughafens. „Totenstill ist es dort jetzt“, erzählt er. Die Schichten fahren nur 30 Prozent der normalen Arbeitszei­t. Immerhin hat er dadurch Zeit für den Schreberga­rten der Familie. Tochter Fatma geht in die achte Klasse der Kerschenst­einer Mittelschu­le. Sie ist geknickt. Eigentlich wäre sie jetzt auf Verwandten­besuch in Ankara, allein, ohne Eltern. „Ich hatte mich so gefreut, es war alles vorbereite­t, dann kam das Virus.“

Im Gegensatz zu den Slavkos einen Kiesweg hinter ihnen, die sich Mitte der 2000er bewarben und am nächsten Tag eine Parzelle bekamen, musste Sari vier Jahre warten. Auch derzeit sind beim Stadtverba­nd der Kleingärtn­er für die 3698 Gartengrun­dstücke 1300 Interessen­ten registrier­t. Höchstens 200 Wechsel gibt es im Jahr, so Reiner Sick von der Geschäftss­telle.

Bei den Saris ist heute Aufräumtag. Auf der Terrasse ist säuberlich nach Gerätekate­gorie geschichte­t, was weg kann. Heckensche­ren, Gartensche­ren, Schraubenz­ieher, Zangen. Dilek Sari begutachte­t die Motorsäge. „Die brauche ich noch“, entscheide­t sie. Die beiden sind Puristen. Im Gegensatz zu den Nachbarn setzen sie auf Funktional­ität und Landwirtsc­haft, blühen tut hier (noch) nichts. Ampfer und Knoblauch haben vorne am Gartentor schon die Erde durchbroch­en. Das Ehepaar kauft nichts, jeder Paprika-, Chili- und Tomatenset­zling wird daheim selbst angezogen. „Warum soll ich was kaufen, wenn ich es aus einem einzigen Samenkorn produziere­n kann“, erklärt der 43-Jährige. Erst im Mai, nach den Eisheilige­n, kommt das Gemüse ins Freie.

Wohl dem, der jetzt in der Natur zu tun hat. Arbeit im Schreberga­rten bekommt da eine ganz neue Dimension. Dafür gibt es die amtliche Erlaubnis. Das bayerische Innenmija nisterium stellt auf seiner Website klar: „Kleingärte­n in Kleingarte­nanlagen dürfen weiterhin genutzt werden. Hier gelten jedoch die gleichen Regeln wie für den Hausgarten.“Menschen aus anderen Haushalten sind nicht erlaubt, Freunde nicht, keine Partys.

Damit kann Johann Keller leben. Er hat Frau und drei Kinder zu Hause gelassen, sein Garten sieht aus wie aus dem Bilderbuch. Kein Grashalm wagt sich über die Gehwegplat­ten, Tulpen säumen die noch leeren Gemüsebeet­e. Die kaum mannsgroße­n Pflaumen-, Kirschen-, Apfel- und Birnbäume sind für den Frühling getrimmt. Heute wollte er Tomatenpfl­anzen besorgen, doch das Gartencent­er hatte zu. In den letzten drei Wochen hat sich Keller jeden Tag vier bis fünf Stunden hier aufgehalte­n, hat Rohre und sein Gartentürc­hen mit der Nummer 12 frisch gestrichen. Die erzwungene Distanz spürt er an der Arbeitsste­lle. Sein Arbeitgebe­r, eine Autosattle­rei in Gersthofen, ist auf Kurzarbeit. „Die Arbeit im Garten lenkt mich ab, sie erfüllt mich und hält mich fit. Aber ich mache mir Sorgen darüber, wie und was das Virus uns hinterläss­t, wenn es wieder weg ist.“

Rosi Slavko, die aus Kroatien stammt, hat schon eine Epidemie erlebt, 1952. „Damals starben die Leute in unserer Straße reihenweis­e.“Ihre Familie war die einzige mit Telefon im Haus und der Arzt, mit dem sie nach stundenlan­gen Versuchen schließlic­h sprechen konnte, riet der damals 14-Jährigen, die Kranken müssten Knoblauchk­nollen essen und ein Glas Schnaps trinken. „Das habe ich so überbracht. Ab da ist niemand mehr gestorben“, sagt sie und zuckt die Achseln.

 ?? Fotos: Silvio Wyszengrad ?? Vier Jahre musste Familie Sari auf ihren Schreberga­rten warten. Nun genießt sie die Freiheit, die er ihnen gibt. Celali mit Sohn Achmed, Dilek und Fatima Sari (von links) verbringen viel Zeit in ihrer Grünparzel­le. Dort vergessen sie manchmal sogar die Sorgen, die Corona mit sich bringt.
Fotos: Silvio Wyszengrad Vier Jahre musste Familie Sari auf ihren Schreberga­rten warten. Nun genießt sie die Freiheit, die er ihnen gibt. Celali mit Sohn Achmed, Dilek und Fatima Sari (von links) verbringen viel Zeit in ihrer Grünparzel­le. Dort vergessen sie manchmal sogar die Sorgen, die Corona mit sich bringt.
 ??  ?? Vier bis fünf Stunden täglich verbringt Johann Keller in seinem Schreberga­rten. Alles sieht dort vorbildlic­h aus.
Vier bis fünf Stunden täglich verbringt Johann Keller in seinem Schreberga­rten. Alles sieht dort vorbildlic­h aus.
 ?? Foto: Annette Zoepf ?? Am Palmsonnta­g saßen vereinzelt Gläubige in den Kirchen, um zu beten. Auch an Ostern wird dies wohl wieder so sein.
Foto: Annette Zoepf Am Palmsonnta­g saßen vereinzelt Gläubige in den Kirchen, um zu beten. Auch an Ostern wird dies wohl wieder so sein.
 ?? Foto: Silvio Wyszengrad ?? Slavko und Rosi Vuko in ihrem Schreberga­rten.
Foto: Silvio Wyszengrad Slavko und Rosi Vuko in ihrem Schreberga­rten.

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