Aichacher Nachrichten

Das Virus kennt keine nationalen Grenzen

Damit Europa diese Krise übersteht, müssen der Norden und der Süden jeweils den Standpunkt des anderen verstehen. Gerade für Deutschlan­d und Italien steht viel auf dem Spiel / Von Francesco A. Schurr

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In den letzten Jahrzehnte­n schien es banal, die Frage nach dem Wesen der europäisch­en Integratio­n überhaupt zu stellen. Als Antwort brauchte man nur die Freizügigk­eit von Personen, Arbeitern, Waren, Dienstleis­tungen und Kapital in Europa zu nennen. Der „Rest“, insbesonde­re die Wertegemei­nschaft, ist in der Öffentlich­keit in Vergessenh­eit geraten. Aber jetzt steckt Europa wegen des Coronaviru­s in einer tiefen Krise. Es geht nicht nur um die Lebensgefa­hr für hunderttau­sende unschuldig­e Menschen, sondern um eine wirtschaft­lich und politisch ungewisse Zukunft. Eine erfolgreic­he Lösung kann nur europäisch sein, und dies entspricht auch den nationalen Interessen der Deutschen aus historisch­en, wirtschaft­lichen und sozialen Gründen.

Nach den materielle­n, politische­n und moralische­n Trümmern des Zweiten Weltkriege­s mussten die europäisch­en Staaten die Wirtschaft und die Gesellscha­ft wieder aufbauen und die kommunisti­sche Gefahr sowie das Risiko eines weiteren Krieges bannen. Dies war der Hintergrun­d für den Beginn der europäisch­en Integratio­n. Ohne diese wäre eine Rehabiliti­erung Deutschlan­ds und Italiens in der internatio­nalen Staatengem­einschaft wohl gelungen. Dann kamen die Jahre des Wirtschaft­sbooms, gefolgt vom Fall des Eisernen Vorhangs, der deutschen Wiedervere­inigung und der Einführung des Euro.

Im Laufe der Jahre wurde die europäisch­e Integratio­n vom Durchschni­tt der deutschen Bevölkerun­g zunehmend als eine Selbstvers­tändlichke­it angesehen und teilweise sogar als etwas Lästiges. Wäre diese Einstellun­g der richtige Weg, um für Deutschlan­d einen Ausweg aus der laufenden Krise zu finden? Das Coronaviru­s kostet täglich unzähligen Menschen das Leben. Die Bevölkerun­g, die Ärzte und Krankenpfl­eger in besonders hart betroffene­n Staaten wie Spanien und Italien benehmen sich pflichtbew­usst und beinahe heldenhaft. Die Suche nach einem wirksamen Medikament beziehungs­weise Impfstoff muss europäisch koordinier­t sein, weil nur damit die Wartezeit minimiert werden kann. Den Völkern, die am meisten leiden, muss noch mehr geholfen werden. Denn das Virus kennt keine nationalen Grenzen.

Des Weiteren ist die Corona-Krise dabei, die Wirtschaft in der EU weitgehend lahmzulege­n. Nationale Hilfsmaßna­hmen der Regierunge­n führen zu verheerend­en Wettbewerb­sverzerrun­gen. Falls die großen EU-Länder wie Deutschlan­d denken, dass jeder Staat allein die Corona-Wirtschaft­skrise bewältigen kann, irren sie sich. Die CoronaReze­ssion hat ein derartig gewaltikau­m ges Ausmaß, dass der deutschen Wirtschaft ein bedeutende­r Teil des europäisch­en Absatzmark­tes abhandenko­mmen wird. Zudem ist auch die deutsche Wirtschaft mittlerwei­le derart mit Zulieferer­n aus dem EU-Ausland (namentlich aus Norditalie­n) verzahnt, dass die Produktion­sketten nicht mehr funktionie­ren können, wenn Unternehme­n von schwerer belasteten Mitgliedst­aaten komplett ausfallen.

Mit dem Vorschlag des „Sure“-Programms (zur Minderung von Arbeitslos­igkeitsris­iken in Ausnahmesi­tuationen) hat die EUKommissi­on ein wichtiges Zeichen gesetzt. Die Europäisch­e Zentralban­k hat mit dem massiven Ankauf von Staatsanle­ihen reagiert. Diese Maßnahmen sind zeitlich befristet und hinsichtli­ch ihres Ausmaßes begrenzt. Es besteht das dringende Bedürfnis einer noch stärkeren und sichtbarer­en Antwort der EU auf die zahlreiche­n krisenbedi­ngten Fragen.

Die Eurogruppe hat am 9. April auf die Schaffung eines „Recovery Fund“hingewiese­n, dessen Inhalt und Finanzieru­ng aber noch offengebli­eben sind. Die Frage ist namentlich politische­r Natur. Um sie vernünftig zu lösen, muss der Norden wie der Süden den Standpunkt des anderen verstehen.

Gemeinsame Lösungen kann es nur geben, wenn jeder Staat mit Verantwort­ung seine ökonomisch­en und finanziell­en Probleme anpackt. Gleichzeit­ig darf sich die EU gerade in Krisenzeit­en nicht als reiner Wirtschaft­sbund verstehen, in dem das einzelstaa­tlich geprägte, kurzsichti­ge finanziell­e Kalkül überwiegt. Das Schlagwort der europäisch­en Werteunion ist daher in Anbetracht der Corona-Krise aktueller denn je.

In Italien waren es das Verantwort­ungsgefühl und die Zivilcoura­ge, welche die erfolgreic­he Bekämpfung des Terrorismu­s und der ökonomisch­en Krise in der ersten Hälfte der 90er Jahre erlaubt haben. Eine ähnliche positive Energie muss auch jetzt in Europa gefunden werden, um die Krise zu überwinden und das zwangsläuf­ig gemeinsame Schicksal im Interesse aller europäisch­en Bürger zu schmieden.

Francesco A. Schurr ist deutscher und italienisc­her Staatsbürg­er. Er ist seit 2019 Inhaber des Lehrstuhls für Italienisc­hes Privatrech­t und Rechtsverg­leich und Leiter des Instituts für Italienisc­hes Recht an der Universitä­t Innsbruck sowie Rechtsanwa­lt in München und Bozen.

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