„Es gibt kein Ende des Erinnerns“
Steinmeier gedenkt der Opfer des Krieges
Berlin Der Staatsakt wurde gestrichen, nicht aber das Gedenken: 75 Jahre nach der Befreiung Deutschlands vom Naziterror hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Bürger am Jahrestag des Kriegsendes zur Verteidigung der Demokratie aufgerufen: „Damals wurden wir befreit. Heute müssen wir uns selbst befreien.“Als neue Bedrohungen nannte er Nationalismus, Hass, Hetze, Fremdenfeindlichkeit und Demokratieverachtung.
1945 sei Deutschland militärisch besiegt, politisch und wirtschaftlich am Boden und moralisch zerrüttet gewesen, sagte Steinmeier. „Wir hatten uns die ganze Welt zum Feind gemacht.“75 Jahre später müsse man wegen Corona zwar allein gedenken, sei aber nicht allein: „Das ist die glückliche Botschaft des heutigen Tages. Wir leben in einer starken, gefestigten Demokratie, im dreißigsten Jahr des wiedervereinten Deutschlands.“Es gebe auch keine Erlösung von unserer Geschichte. Denn: „Es gibt kein Ende des Erinnerns.“
Berlin Vertreter von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, Jugendliche aus aller Welt – insgesamt 1600 Gäste, versammelt vor dem Reichstagsgebäude zu einem Staatsakt. So hatte sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den 8. Mai, das Erinnern an das Ende von Krieg und nationalsozialistischem Terror, vorgestellt. Dann kam die Corona-Krise. Am Ende wird es ein fast schon einsames Gedenken der fünf höchsten Repräsentanten des deutschen Staates. Deutschland müsse an diesem Tag allein gedenken, sagt Steinmeier später. „Aber: Wir sind nicht allein! Das ist die glückliche Botschaft des heutigen Tages!“
Um 12 Uhr fahren die gepanzerten Wagen vor der Neuen Wache am Boulevard Unter den Linden in Berlin vor. Die zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft ist weiträumig abgesperrt. Die aus den Limousinen zuerst aussteigenden Sicherheitsbeamten tragen Mundschutz, nicht so der Bundespräsident, Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sowie die Präsidenten von Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht, Wolfgang Schäuble (CDU), Dietmar Woidke (SPD) und Andreas Voßkuhle.
Vor der Plastik „Mutter mit totem Sohn“von Käthe Kollwitz liegen bereits fünf Kränze. Auf dem menschenleeren Platz davor steht das Rednerpult, an das Steinmeier schließlich tritt.
„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Freunde in Europa, liebe Partner und Verbündete rund um die Welt“– so beginnt Steinmeier. Es schmerzt ihn sichtlich, dass die Angesprochenen so fern sind. „Wir Deutsche begehen den Tag unter uns, und das ist notwendig“, sagte Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede vom 8. Mai 1985. Steinmeier knüpft bewusst an von Weizsäcker an, zitiert dessen Satz vom „Tag der Befreiung“und befindet, man müsse diesen heute „neu und anders lesen“. „Damals war dieser Satz ein Meilenstein im Ringen mit unserer Vergangenheit. Heute aber muss er sich an unsere Zukunft richten. ,Befreiung‘ ist nämlich niemals abgeschlossen, und sie ist nichts, was wir nur passiv erfahren, sondern sie fordert uns aktiv, jeden Tag aufs Neue.“
Schon bei den Gedenkveranstaltungen im Januar in Israel und Polen zur Befreiung des deutschen Konzentrationslagers Auschwitz hatte er deutlich gemacht, dass es gilt, aus der Vergangenheit die richtigen Lehren für die Zukunft zu ziehen.
Dies sind für ihn im Wesentlichen drei: Es darf keinen Schlussstrich unter das Erinnern an die Verbrechen und die Opfer geben. Deutschland trägt eine besondere Verantwortung für den Zusammenhalt Europas. Und: Die Demokraten dieses Landes müssen entschieden gegen die Rückkehr von Hass, Gewalt und neuem Nationalismus kämpfen.
Vor der Neuen Wache in Berlin hört sich das so an: „Wer einen Schlussstrich fordert, der verdrängt nicht nur die Katastrophe von Krieg und NS-Diktatur. Der entwertet auch all das Gute, das wir seither errungen haben – der verleugnet sogar den Wesenskern unserer Demokratie.“Deutschlands Einsatz für Europa muss sich für Steinmeier auch in der Corona-Krise bewähren: „Wenn wir Europa, auch in und nach dieser Pandemie, nicht zusammenhalten, dann erweisen wir uns des 8. Mai nicht als würdig.“