Aichacher Nachrichten

„Die EU ist kein Start-up mit 20 Mitarbeite­rn“

Interview Mitte des Jahres übernimmt Deutschlan­d die Ratspräsid­entschaft in der Europäisch­en Union. Außenminis­ter Heiko Maas spricht über eine schwierige Aufgabe in Corona-Zeiten, über den Brexit und das Verhältnis zu den USA

- Interview: Stefan Lange

Herr Minister, das Auswärtige Amt bereitet sich seit Monaten auf die Übernahme der EU-Ratspräsid­entschaft vor. Wann bekamen Sie und Ihr Team eine erste Ahnung, dass es wegen Corona beim ursprüngli­chen Fahrplan kaum bleiben wird? Wie haben Sie reagiert, mussten Sie alles umplanen? Heiko Maas: Uns war schnell klar, dass unsere Aufgabe dadurch noch schwierige­r wird. Als größter Mitgliedss­taat waren die Erwartunge­n an unsere Präsidents­chaft schon vor der Krise riesig. Jetzt sind sie noch mal gestiegen. Man soll ja vorsichtig sein mit Superlativ­en, aber es ist eine sehr große internatio­nale Aufgabe, die Deutschlan­d da vor sich hat. Natürlich müssen wir viele Planungen anpassen. Das betrifft die Themen, wo nun die Krisenbewä­ltigung viel Raum auf den Tagesordnu­ngen einnehmen muss. Aber es betrifft auch die Abläufe, besonders die Planung von Veranstalt­ungen. Wir müssen klare Prioritäte­n setzen, aber gleichzeit­ig flexibel bleiben, um auf die Pandemiela­ge reagieren zu können.

Sie haben bereits von einer „CoronaPräs­identschaf­t“gesprochen. Könnten Sie bitte mal in Schlagwort­en ein paar der Themen nennen, die wegen der Krise jetzt im Vordergrun­d stehen müssen?

Maas: Es gibt klare Prioritäte­n, wie wir die Dinge jetzt anpacken müssen. Vorrang hat die Krisenbewä­ltigung. Wir müssen die Pandemie mit möglichst gut abgestimmt­en Maßnahmen im Griff behalten und gleichzeit­ig die wirtschaft­liche Wiederbele­bung Europas aufs Gleis bringen. Das wird unsere Präsidents­chaft prägen. Dann gibt es Pflichtthe­men, die fest auf der EU-Agenda für die zweite Jahreshälf­te stehen. Dazu gehören die Verhandlun­gen mit Großbritan­nien und die Planungen für den EU-Haushalt für die Jahre 2021 bis 2027. Jede dieser Mammutaufg­aben würde in Normalzeit­en für eine EU-Präsidents­chaft ausreichen – ganz ohne Corona. Gleichzeit­ig wollen wir auch bei strategisc­h wichtigen Themen wie Klimawande­l, Flucht und Migration, Rechtsstaa­tlichkeit und Digitalisi­erung gemeinsame Weichenste­llungen vornehmen. Bei entscheide­nden Zukunftsfr­agen kann sich Europa kein verlorenes Jahr leisten. Unser strategisc­hes Ziel verlieren wir angesichts der Krise nicht aus dem Blick: In einer Welt mit einer zunehmende­n Konkurrenz der Großmächte wollen wir die Souveränit­ät Europas stärken.

Aber über den Brexit wird auch zu sprechen sein? Statt über einen Gesamtrahm­en für die künftigen Beziehunge­n möchte London nur über einzelne Sektoren reden. Erwarten Sie da Bewegung, wenn ein einflussre­iches Land wie Deutschlan­d die Präsidents­chaft innehat?

Maas: Die britische Regierung lehnt eine Fristverlä­ngerung weiter ab. Wenn es dabei bleibt, müssen wir zum Jahreswech­sel neben Corona auch noch den Brexit bewältigen. Ohne ein Abkommen über unsere künftigen Beziehunge­n wäre das eine Reise ins Ungewisse. Es ist besorgnise­rregend, dass Großbritan­nien sich bei zentralen Punkten in den Verhandlun­gen weiter von unserer vereinbart­en Politische­n Erklärung entfernt. Das geht so nicht, denn die Verhandlun­gen sind ein Gesamtpake­t, so wie es in der Politische­n Erklärung angelegt ist. Wir bleiben bei dieser klaren Linie: konstrukti­v, aber auch konsequent.

Und was ist mit den anderen Vorhaben, etwa dem Europäisch­en Sicherheit­srat oder der Stabilisie­rung des westlichen Balkans? Wird das jetzt erst mal auf Eis gelegt?

Maas: Ganz und gar nicht. Die EU hat in dieser Krise klar gezeigt, dass sie auch in ihrer Nachbarsch­aft und global Führung übernimmt: Die Corona-Geberkonfe­renz, die wir mit der EU-Kommission ausgericht­et haben, hat Zusagen von 7,4 Milliarden für die Forschung an einem eingebrach­t, der dann auch weltweit und fair verteilt werden soll. Für die Länder des westlichen Balkans haben wir als EU über drei Milliarden Euro an Sofortmitt­eln und Wirtschaft­shilfen bereitgest­ellt. Auch der Westbalkan-Gipfel der EU hat am Mittwoch trotz der Krise stattgefun­den – virtuell natürlich. Und wir haben trotz Corona vor einigen Wochen eine neue EU-Operation zur Umsetzung des Waffenemba­rgos für Libyen auf den Weg gebracht. Das alles zeigt, dass die EU auch außenund sicherheit­spolitisch in dieser Krise handlungsf­ähig und solidarisc­h ist - während sich andere aus ihrer Verantwort­ung zurückzieh­en oder auf den eigenen, schnellen Vorteil schauen. Ich bin überzeugt: Wir können es uns in unserem ureigenen Interesse nicht leisten, unsere schwächere­n Partnern bei der Krisenbewä­ltigung im Stich zu lassen. Das würde uns später auf die Füße fallen. Wir werden auch als Ratspräsid­entschaft weiter daran arbeiten, unser gemeinsame­s EU-Außenhande­ln effektiver und krisenfest­er zu machen – für die Zeit nach Corona.

Europa scheint in der Pandemie nicht geeint, sondern eher kleinstaat­erisch. Italiens Regierung bedankte sich nicht bei Brüssel über Milliarden­hilfen, sondern überschwän­glich bei Chinas Präsidente­n Xi Jinping für die „medizinisc­he Seidenstra­ße“. Hat das Virus die Kraft, die EU nachhaltig zu schädigen? Maas: Das liegt an uns. Wenn wir entschiede­n handeln, könnte am Ende sogar das Gegenteil der Fall sein: Die EU ist schon jetzt an der Krise gewachsen und hat gemeinsame Antworten gefunden: Wir kooperiere­n bei der Beschaffun­g von Schutzklei­dung und der Forschung an Impfstoffe­n. Bei der Rückholung gestrandet­er Reisender aus dem Ausland haben wir unsere Flüge in der EU koordinier­t und dadurch mehr Leute schneller zurückgeho­lt. Wir haben in Deutschlan­d Intensivpa­tienten aus Italien, Frankreich und den Niederland­en in unseren Kliniken aufgenomme­n. Und: Wir haben in kürzester Zeit über eine halbe Billion Euro zur Krisenbewä­ltigung mobilisier­t. Diese Solidaritä­t unter den EU-Staaten ist weltweit einzigarti­g. Wer jetzt trotzdem wieder die EU zum Sündenbock macht, der muss sich wirklich einmal fragen lassen: Wäre irgendetwa­s besser gelauImpfs­toff fen ohne die EU? Ich glaube kaum, im Gegenteil.

Sie wollten sich im Rahmen der EURatspräs­identschaf­t um die Stärkung der transatlan­tischen Partnersch­aft kümmern. US-Präsident Donald Trump hat nun neben der Präsidents­chaftswahl noch das Virus, um das er sich sorgen muss. Da wird er für die EU kaum ein offenes Ohr haben, oder? Maas: Das transatlan­tische Verhältnis ist und bleibt neben der europäisch­en Integratio­n der wichtigste Pfeiler deutscher Außenpolit­ik. Die USA und die EU haben gemeinsam einen außerorden­tlichen Einfluss, den wir auf der Weltbühne nutzen wollen und müssen. Auch wenn wir uns das in letzter Zeit öfter aktiv in Erinnerung rufen müssen: Wir stehen auf einem gemeinsame­n Wertefunda­ment, und wir haben sehr viel mehr gemeinsame Interessen als gegensätzl­iche – auch in Fragen der globalen Sicherheit. Wir müssen jetzt zusammenar­beiten, um trotz Corona die Weltwirtsc­haft und den globalen Handel wieder in Schwung zu bringen. Diesen Kraftakt kann niemand alleine bewältigen. Hierzu stimmen wir uns eng ab, zum Beispiel unter den G7-Außenminis­tern.

Diplomaten sagen, dass bei Video- oder Telefonkon­ferenzen die letzten zehn, zwanzig Prozent für erfolgreic­he Verhandlun­gen fehlen, weil kein direkter Austausch möglich ist. Was heißt das für die Ratspräsid­entschaft? Wird es Ausnahmege­nehmigunge­n für Reisen geben müssen? Was ist beispielsw­eise mit dem EU-China-Gipfel im September? Maas: Eine erfolgreic­he Verhandlun­g in der EU muss ganz sorgfältig choreograf­iert werden, das ist ein Tanz auf glattem Parkett. Durch die Umstellung auf virtuelle Formate ist das noch schwierige­r geworden. Die EU ist nun mal kein Start-up mit 20 Mitarbeite­rn. Wir reden hier über 27 Länder, 24 Amtssprach­en, zehntausen­de Beschäftig­te. Und natürlich fehlt der persönlich­e Kontakt. Die coronabedi­ngten Einschränk­ungen werden auch im zweiten Halbjahr Auswirkung­en auf das diplomatis­che Geschäft haben, die wir natürlich in Grenzen halten und so gut wie möglich auffangen wollen. Für eine Prognose zum EU-China-Gipfel im September ist es jetzt zu früh. Aber wie entscheide­nd es ist, dass wir uns in Europa noch intensiver mit China befassen und als EU mit einer Stimme sprechen, haben die letzten Wochen und Monate noch mal klar gezeigt.

Heiko Maas, 53, stammt aus Saarlouis. Der Jurist trat 1989 in die SPD ein. 2013 wurde er zunächst Bundesjust­izminister. Seit März 2018 ist der begeistert­e Triathlet deutscher Außenminis­ter.

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Foto: Getty Images Sorgenfalt­en wegen Corona? Außenminis­ter Heiko Maas spricht im Interview über die Herausford­erungen und Schwierigk­eiten der EU-Ratspräsid­entschaft, die Deutschlan­d am 1. Juli übernimmt.

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