An der Seite einer Kämpferin
Netflix-Doku über Michelle Obama
Stellt ein Autor sein neues Werk auf einer Lesereise vor, so trifft er meistens in lokalen Buchhandlungen auf seine Zuhörerschaft. Wenn eine Frau wie Michelle Obama mit ihrer Autobiografie „Becoming“auf Tour geht, füllt sich eine ganze Sportarena. Wie ein Popstar wird die ehemalige First Lady gefeiert, wenn sie in ihrer Heimatstadt Chicago die Bühne betritt. Die Menschen stehen stundenlang an, um ihre Ausgabe signieren zu lassen. Und Michelle Obama weiß sehr genau, welche Bedeutung die kurze Begegnung für ihr Gegenüber hat.
In ihrer Dokumentation „Becoming“begleitet Regisseurin Nadia Hallgren die ehemalige Präsidentengattin auf einer Buchtour kreuz und quer durch die USA. In Auftrag gegeben wurde der Film von der Produktionsfirma Higher Ground, die von den Obamas gegründet wurde und mit Netflix – wo „Becoming“bereits läuft – einen Exklusiv-Deal abgeschlossen hat. Ein allzu kritisches Porträt darf man hier also nicht erwarten.
Aber nur auf den ersten Blick wirkt die Dokumentation wie das filmische Bonusmaterial zur Autobiografie. Hallgren konzentriert sich auf jene Michelle Obama, die nach acht Jahren als First Lady neue Wege für ihre politische Arbeit sucht. Die Buch-Tournee ist für sie auch eine Möglichkeit, sich endlich wieder unters Volk zu mischen. Zurück zur Basis und zur eigenen Herkunftsgeschichte. „Ich bin eine ehemalige First Lady der Vereinigten Staaten und eine Nachfahrin von Sklaven“, erklärt sie und schaut auf ihr Leben zurück. Die Studienberaterin an der Schule riet der jungen Michelle trotz herausragender Zensuren davon ab, sich in Princeton zu bewerben. Sie schaffte es dennoch, wie danach das Jurastudium in Harvard. Später, als Rechtsanwältin in einer angesehenen Kanzlei, lernte sie Barack Obama kennen. Der junge, gut aussehende Praktikant hatte große Träume und politische Ambitionen. Für Michelle war er aber vor allem auch eine Herausforderung, die sie nur zu gerne annahm.
Auch heute blitzt in den Augen der 56-Jährigen noch die Energie der engagierten Kämpferin durch, die an neuen Herausforderungen weiter wachsen will. Im Film gesteht Michelle Obama, dass sie erhebliche Zweifel daran hatte, ob das Land reif war für einen afroamerikanischen Präsidenten. Die Geschichte scheint ihrer skeptischen Einschätzung recht zu geben. Auch wenn der Name „Trump“wie Voldemort in „Harry Potter“gemieden wird, macht der Rückblick schmerzhaft den Verfall der politischen Kultur im heutigen Amerika deutlich. Nur einmal nimmt Michelle Obama indirekt auf den amtierenden Präsidenten Bezug: „Man kann Kriege auslösen und die Wirtschaft zerstören. Es ist zu viel Macht, um nachlässig zu sein.“Unwillkürlich denkt man dabei an einen US-Präsidenten, der im Kampf gegen eine Pandemie seinen Bürgern die Injektion von Desinfektionsmitteln empfiehlt.