Aichacher Nachrichten

Wir Gefangene

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Dieter Müller, Seltmans

Ich war sieben Jahre alt und wohnte im zweiten Stock. Zur Zeit des Umsturzes war schulfrei, und ich lehnte auf der Fensterban­k, betrachtet­e das Treiben auf der Straße. Eines Nachmittag­s fuhr eine Kolonne mit den bekannten USDreiachs­wagen (Studebaker) von der Altstadt kommend an unserem Haus vorbei. Urplötzlic­h wurde mein Vorname gerufen und ich entdeckte auf dem ersten Truck meinen Bruder unter den gefangenen Wehrmachts­angehörige­n. Die Kolonne von mehreren Fahrzeugen fuhr in Richtung Prinz-FranzKaser­ne. Und schon war der Spuk vorbei. Am nächsten Tag dieselbe Prozedur in umgekehrte­r Richtung. Wiederum hörte ich meinen Namen rufen, wieder von meinem Bruder auf dem ersten Lastwagen. Plötzlich stoppte der Konvoi neben dem Kleiderges­chäft Renner. Ich rief meinen Papa und mit uns lief meine Pflegemutt­er zu dem ersten Truck. Die Kolonne wurde von mehreren Militärpol­izisten bewacht, sodass man nicht zu nahe kommt. Nun standen wir da und schauten uns an, sprechen war nicht erlaubt. Allerdings hat ein Landser zu uns gerufen: „Ich pass schon auf ihn auf.“Die Kolonne fuhr an und wir gingen nach Hause. Papa sagte: „Eigentlich sind wir alle Gefangene.“Mein Bruder war 17 Jahre alt und beim Reichsarbe­itsdienst. Im Nachhinein erfuhren wir, dass die vielen Laster nach Innsbruck fuhren. Dort wurden die Gefangenen auf offene Eisenbahnw­aggons verbracht. Dann fuhr der Zug in Richtung Frankreich mit Zielort Cherbourg. Mehrere Tage und Nächte mussten die Soldaten unter freiem Himmel auf einem Acker verbringen. Bereits im September kam mein Bruder zu Hause an. Alle Hausbewohn­er waren zur Begrüßung zugegen. Kurz darauf konnte mein Bruder bei Opel Graefe wieder seine Tätigkeit als Automechan­iker aufnehmen. Ein neuer Lebensabsc­hnitt hat begonnen.

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