In acht Tagen mit dem Zug von Hamburg bis Kempten
Dr. Anneliese Helmer, Kempten
Am 8. Mai 1945 war der Krieg zu Ende. Großer Jubel. Die Arbeit auf dem Lazarettschiff ging aber weiter … Mit der Zeit trat immer häufiger die Frage auf, wie lange der Aufenthalt in Dänemark wohl dauern würde. Kein Mensch wusste etwas. Von der Heimat konnte natürlich keine Nachricht mehr kommen. Wir konnten auch keine Post abschicken. Niemand wusste, was inzwischen in Deutschland passiert war, ob die Angehörigen noch lebten, das Haus noch stand etc. und ob wir je wieder zurückkehren könnten. Es hieß, das Lazarettschiff habe einen Minenschaden und müsste repariert werden. Jedenfalls könne es Kopenhagen so nicht verlassen.
Doch eines Tages im Juni 1945 setzte sich das Schiff in Richtung Deutschland in Bewegung und wir landeten nach ganz langsamer Fahrt schließlich ein paar Tage später in Kiel. Erst wurden alle Verwundeten ausgeladen und in Lazarette verlegt. Danach wurde das Schiff auf Reede abgestellt. Und das für mehrere Wochen. Wir waren nun in englischer Gefangenschaft. Jeden zweiten Tag gab es abends einen neuen Film im Kinosaal. Für Bewegung sorgten wir durch ausgedehnte Märsche rund um das Promenadendeck. Eines
Tages hieß es, dass die Engländer zur Bewachung an Bord kämen. Die schönsten Kabinen wurden für sie mit neuen Betten und Matratzen eingerichtet. Abends haben wir schnell die neuen Matratzen mit unseren alten, mit Wanzen verseuchten ausgetauscht. So konnten wir unsere Wanzen und Kakerlaken loswerden. Einige Tage schliefen wir ohne Wanzenbelästigung. Aber, oh Schreck, nach kurzer Zeit nisteten sich neue Tierchen ein, die von den Nebenkabinen ohne große Mühe wieder eintrafen. Nach weiteren Wochen kam der Befehl zu packen.
Auf der Ladefläche stehend wurden wir mit großen Lkw der Engländer nach Hamburg trans- portiert. Dort kamen wir in ein neues Entlassungslager in der Boehn-Kaserne in Hamburg-Rahlstedt. Hier dauerte es wieder acht Tage, bis die Entlassungspapiere ausgestellt waren. Am 21. August 1945 wurde ich entlassen. Nun standen wir da, die drei Mädchen aus Bayern, und sollten uns in dem sehr zerbombten Hamburg zurechtfinden. Der erste Weg führte zur Polizei, um einen Ausweis für den Rücktransport in die Heimat zu beantragen. Wie der Rücktransport erfolgen sollte, war uns selbst überlassen.
Wie wir mit dem Gepäck zum
Bahnhof gekommen sind, weiß ich nicht mehr. Nach langem Hin und Her setzten wir uns in den offenen Kohlenwagen eines Kohlenzuges, der Richtung Süden fahren sollte. Aber wann? Niemand konnte uns genaue Angaben machen. Mein Hab und Gut bestand aus einer weißen Wolldecke, meinem Köfferchen und meinem Rucksack, meinem Brotbeutel, einer Feldflasche, einem Teller mit der dänischen Königskrone hintendrauf, einer Tasse, einem Löffel. Mehr besaß ich nicht mehr.
Nach Stunden des Wartens setzte sich der Zug langsam in Bewegung und wir fuhren die Nacht durch in südliche Richtung. Als kein Zug weiter nach Süden ging, übernachteten wir auf dem Bahnhofsgelände im Freien. Insgesamt völlig durchnässt ging die Weiterfahrt im Laufe des Tages auf einer Lore weiter. In die feuchte Wolldecke eingehüllt, haben wir sehr gefroren, da der Fahrtwind trotz langsamer Fahrt nicht zu verachten war. Der Güterzug hielt in Hanau. Dort stieg ein Neger auf unseren Wagen und fragte uns, wo wir hinwollten. Er bot uns an, uns mit seinem Jeep nach Hause zu fahren. Das aber war uns zu unheimlich und wir lehnten dankend ab.
Weiter ging es mit verschiedenen anderen Zügen. Gekostet hat uns die Reise nichts. Niemand fragte nach einem Ausweis, Entlassungsschein oder Fahrschein. Was ich in den acht Tagen gegessen habe, weiß ich nicht mehr. Marschverpflegung habe ich nur für zwei Tage mitbekommen. Ich bin schließlich mit Sack und Pack völlig verdreckt im Hindenburgring 37, Kempten, angekommen. Nach vorsichtigem Läuten öffnete meine Mutter und ist vor Freude fast in Ohnmacht gefallen. Der Vater kam erst einige Stunden später heim. Nach den ersten Säuberungsaktionen und erst einmal Ausschlafen in einem richtigen Bett musste ich mich sofort um meine Lebensmittelmarken kümmern. Auch benötigte ich einen zivilen Personalausweis. Mein Entlassungsschein von der „Navy“aus Hamburg von der englischen Besatzungszone wurde hier in Bayern von den Amerikanern nicht anerkannt. So musste ich gleich wieder mit einem Lkw in ein amerikanisches Entlassungslager nach Memmingen abreisen. Dem Personal dort kam ich aber sehr verdächtig vor – es folgten Vorladung und Einzelverhör und Abwarten … Abwarten … Nach 14 Tagen allein ohne Waschzeug und Wäsche erfolgte endlich die Entlassung. Der Rücktransport nach Kempten erfolgte auf der Ladefläche eines Lkw.