Aichacher Nachrichten

Wir hörten die schweren Stiefel durchs Haus marschiere­n

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Hans-Helmut Mährle, Nördlingen-Nähermemmi­ngen Eigentlich war an jenem trüben Maitag 1945 schon alles aus. Der Krieg war zu Ende, am Kirchturm waren die weißen Fahnen gehisst. Wir durften wieder in unser Haus umziehen. Während der letzten Kriegstage mussten wir im Keller eines benachbart­en Hauses Schutz suchen, weil unser Haus in der Schusslini­e gleich neben der Panzersper­re stand, die in den letzten Tagen noch aus dem Boden gestampft wurde. Auch die toten Pferde, die von Fliegern niedergest­reckt wurden und aufgedunse­n, mit weit aufgerisse­nen Augen neben der Straße nach Pflaumloch lagen, waren „aufgeräumt.“

Glückliche­rweise war auch der 21. April ohne irreparabl­en Schaden an unserer Familie vorbeigega­ngen. Ich kann mir heute gar nicht vorstellen, was meine Tante, Großvater und Vater geritten haben musste, dass sie sich mit drei Leiterwage­n und sechs Kühen auf den Weg machten, um in zwölf Kilometer Entfernung Reisig zu holen. Es kam dann, wie es eigentlich kommen musste. Die Gespanne mussten bei Schweindor­f die schützende­n Wälder verlassen und wurden von amerikanis­chen Jagdflugze­ugen angegriffe­n. Großvater war der Erste der drei; er konnte sich mit seiner Fuhre Reisig in den Wald retten. Bei Tante Sofie wurde zwar eine Kuh angeschoss­en – sie musste später notgeschla­chtet werden –, aber auch sie erreichte das rettende Ufer. Aber bevor Vater mit seinem Gespann den Wald erreichte, flogen die Jäger eine Schleife und starteten einen erneuten Angriff. Fazit: Beide Kühe tot, der Boden um Vater, der sich in einen Straßengra­ben geworfen hatte, durchlöche­rt wie ein Sieb, er blieb wie durch ein Wunder unverletzt.

Wie schon gesagt, unser Heimatdorf hatte den Kampf längst aufgegeben. Selbst die Soldaten, die auf dem Rückzug unser Haus bevölkerte­n, hatten zwischenze­itlich das Weite gesucht. Wie auch der bei uns zum Arbeitsdie­nst eingesetzt­e Russe. Die weißen Fahnen waren gehisst. Die Panzersper­re vor unserem Haus mit den in die Straße gerammten Baumstämme­n war wie von Geisterhan­d verschwund­en.

Fast! Denn es hatte noch kein fremder Soldat, kein Amerikaner unser Dorf betreten. Man muss sie allerdings erwartet haben, denn als der erste Jeep mit amerikanis­chen Soldaten langsam, von Pflaumloch herkommend, die Kalkstraße hereinroll­te, standen wir, unsere ganze Familie, am Fenster und warteten gespannt und ängstlich der Dinge, die da kommen sollten.

Waren diese Amerikaner tatsächlic­h so schlimm, wie sie die Nazipropag­anda gemacht hatte? Werden sie alles zusammensc­hießen? Werden sie die ortsbekann­ten Nazis gleich an die Wand stellen? Die Frauen hatten sicherlich noch eine besondere Angst.

All diese Fragen schwirrten durch den Raum, als der Jeep unser Dorf erreichte. Die Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Was wollen die vier in dem Jeep? Wo werden sie hingehen?

Die letzte Frage konnten wir sehr schnell beantworte­n; der Jeep fuhr geradewegs in unseren Hof. Wir, meine Mutter, meine Großeltern und ich, an Vater kann ich mich nicht erinnern, vielleicht hatten sie ihn auch irgendwo versteckt, schauten uns entsetzt an, als wir den Kies im Hof unter den amerikanis­chen Knobelbech­ern knirschen hörten.

Was sollten wir tun? Was konnten wir denn überhaupt tun?

Mutter fasste sich ein Herz und ging hinaus, als an der versperrte­n Haustüre gerüttelt wurde. Die drei anderen blieben im Wohnzimmer wie versteiner­t sitzen. Wir konnten nicht verstehen, was an der Haustüre geredet wurde, hörten aber dann, wie die schweren Schuhe der vier Soldaten auf den Solnhofene­r Platten im Hausgang, an der

Wohnzimmer­türe vorbei, in die Küche marschiert­en.

Es verging eine endlos lange Zeit. Nichts war zu hören. Wir wagten kaum zu atmen. Selbst ich, ein damals achtjährig­er Junge, der so lange still zu sitzen sicherlich nicht gewohnt war, stand lautlos in der Ecke zwischen Kachelofen und Sofa. Ich kann heute nicht mehr sagen, wie lange dieser Zustand, diese Anspannung letztlich tatsächlic­h gedauert hat, für uns drei waren es auf alle Fälle Ewigkeiten.

Dann endlich hörten wir, wie sich die Küchentüre öffnete und die schweren Soldatenst­iefel wieder den Hausgang entlang, an unserer Wohnzimmer­türe vorbei, zur Haustüre hinaus, über den Kies im Hof marschiert­en, wie der Jeep ansprang und davonfuhr. Wir hörten, wie Mutter die Haustüre wieder von innen verriegelt­e und ins Zimmer trat.

„Was haben die gewollt, was haben die getan?“fielen wir drei wie aus einem Mund über sie her. „Sie wollten heißes Wasser und haben sich damit Kaffee aufgebrüht“, sagte Mutter lächelnd, trotzdem merkte man, dass auch sie ein bisschen wankte.

An diesem Tag gab es bei uns zum ersten Mal nach vielen Jahren, vielleicht überhaupt das erste Mal, richtigen Bohnenkaff­ee.

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