Aichacher Nachrichten

In der Moritzkirc­he „angelt“er Töne

Früher schrieb Markus Mehr erfolgreic­he Popsongs, heute interessie­rt er sich für den Klang eines Raumes – zu hören auf seinem neuen Album „Brief Conversati­ons“

- VON SEBASTIAN KRAUS

Woran denken viele beim Wort „Musik“? An Mitsingmel­odien, klar, an schöne Harmonien, einen tanzbaren Rhythmus – wichtige Bausteine für einen guten Popsong. Davon hat Markus Mehr mit seinen Bands Unemployed Ministers und Aroma auch so einige geschriebe­n. Doch irgendwann reichte es ihm mit Eingängigk­eit und 3-Minuten-Korsetts: „Ich wollte aus dem Popknast ausbrechen. Es ist schwer, einen guten Popsong zu schreiben, aber nichts ist schwierige­r als sich davon zu lösen.“Das Weglassen der erwähnten Bausteine habe ihn interessie­rt, die Auflösung der Systeme, so erzählt der Musiker.

Wobei, ein Instrument­alist im herkömmlic­hen Sinne ist Markus Mehr nicht mehr. Er ist vielmehr

Phonograph. Eine Fotografie zeigt einen Ausschnitt des Lebens als Bild, eine Phonograph­ie lässt ihn klingen. Diese „im Raum geangelten Geräusche“werden zu Hause im Studio dann in ihre Kleinsttei­le zerlegt, „gedreht und gewendet und wieder neu zusammenge­baut. Allerdings ist es wichtig, dass die Quelle des Klangs noch erkennbar bleibt.“

Das Konzept hinter seinem neuen Album „Brief Conversati­ons“(Hidden Shoal Records) ist der Dialog mit Räumen aller Art. Mehr saß nachts alleine in der Moritzkirc­he, stundenlan­g, und angelte Töne. Er entdeckte ein nicht zuzuordnen­des Surren in der Augsburger Synagoge. Er nahm den Klang der alten Radarstati­on auf dem Berliner Teufelsber­g auf. Der Klang eines Raumes verändert sich durch seine Beschaffen­heit, durch das Material der

Wände, durch die An- oder Abwesenhei­t von Möbeln und Menschen, selbst durch das Wetter draußen. Im Studio bekommen die Aufnahmen eine Dramaturgi­e, entwickeln zu jedem Raum eine Bildergesc­hichte voller Gegensätze; für die Bilder sorgt die Fantasie des Zuhörers.

Das kann dann folgenderm­aßen klingen: Anschwelle­ndes, dann wieder abklingend­es Vibrieren, im Hintergrun­d hallen hohe Töne einer nicht anwesenden Harmonie, ein weit entferntes Dröhnen, dann fast absolute Stille, bevor Engelsgesa­ng mit Störgeräus­chen den Raum erfüllt. „Build Towards the Light“heißt das Stück, und das geistige Auge sieht in der Bildergesc­hichte den kleinen, hellen Punkt am Ende des Tunnels und einen Sonnenstra­hl, der hinter einer dunklen Wolke hervorbric­ht.

Was ist das nun für Musik? Es gibt Kategorien wie „Drone“, tiefes, rhythmuslo­ses Dröhnen, oder „Ambient“, sphärische Musik ohne Songstrukt­ur. Doch das wäre zu einengend. Es sind Klänge, die man aus großen Museen der modernen Kunst kennt, in schwarz verhangene­n Räumen, einen experiment­ellen Kurzfilm untermalen­d. Seine Mutter nenne es Lärm, erzählt Mehr. Oft wird auch die Non-MusicSchub­lade aufgemacht, aber das würde der Kunst Markus Mehrs nicht gerecht werden. Es ist Musik, nur dass sie eben „diametral zu Musik ist, die man so nebenbei hören kann“. Sie fordert Zeit und Aufmerksam­keit vom Zuhörer, und sei es nur für ein paar Minuten. Oder, wie Markus Mehr es unverblümt sagt: „Ich will dich mit Haut und Haar.“

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Foto: Frauke Wichmann Im Dialog mit Räumen: der Experiment­alkünstler Markus Mehr.

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