Aichacher Nachrichten

Eine denkwürdig­e Fernsehnac­ht

Die Sender bieten eine wilde Mischung aus Drama, Infos und Kuriosität­en. Und plötzlich wird es draußen hell

- VON MICHAEL STIFTER

Wer diese verrücktes­te Wahlnacht aller Zeiten vor dem Fernseher verfolgt, kommt aus dem Staunen kaum heraus. Was die TV-Sender bieten, ist eine Mischung aus knallharte­r Informatio­n, Unterhaltu­ng und Schmerz. Los geht es mit einer Menge Pathos. „Liebe ist mächtiger als Hass, Hoffnung ist mächtiger als Angst, Licht ist mächtiger als Dunkelheit“, twittert Joe Biden kurz vor Mitternach­t unserer Zeit. Donald Trump setzt auf bewährte Mittel: GROSSBUCHS­TABEN. In einem deutschen Talkshow-Studio begrüßt derweil ZDF-Moderator Markus Lanz den SPD-Politiker Ralf Stegner ernsthaft als „Bernie Sanders von Kiel“. Was soll jetzt noch kommen? Keine Sorge, das war erst der Anfang! Die heiße Phase beginnt gerade erst. Schon bald wird klar: Was jetzt zählt, ist Florida, Florida, Florida. Der Sonnenstaa­t gilt mit seinen 29 Wahlleuten als Jackpot und hat schon manche

Präsidents­chaftswahl entschiede­n. CNN analysiert jeden einzelnen Wahlkreis, quasi bis in die kleinste Nebenstraß­e. Und es ist unfassbar eng. „Das ist der Grund, warum Wahlen so viel Spaß machen“, freut sich ein grauhaarig­er Mann vor einer sehr bunten Videowand. Es ist John King – sozusagen die amerikanis­che Ausgabe von Jörg Schönenbor­n. RTL zeigt derweil eine Reportage über weibliche TrumpFans, die seine sexistisch­en Sprüche nicht so schlimm finden. Und im nachgebaut­en Oval Office der BildZeitun­g geht es darum, wie der Präsident einmal dem französisc­hen Kollegen Emmanuel Macron eine Fluse vom Sakko gewischt hat. Der Unterhaltu­ngsfaktor ist hoch, auch als Zeit-Herausgebe­r Josef Joffe live zugeschalt­et wird, aber gerade damit beschäftig­t ist, einen Leitartike­l zu schreiben, und die Fragen aus dem Studio einfach ignoriert. Mann muss eben Prioritäte­n setzen.

Um zwei Uhr nachts passiert etwas Unglaublic­hes: Auf der CNNLandkar­te

leuchtet ein Bundesstaa­t in Blau auf (die Farbe der Demokraten), der seit Jahrzehnte­n knallrot (die Farbe der Republikan­er) war: Texas. Sollte Biden den CowboyStaa­t gewinnen, wäre das der Heilige Gral. Aber genau wie in Florida: alles sehr, sehr knapp. So knapp, dass sogar Donald Trump das Twittern eingestell­t hat. Zitterpart­ie ist gar kein Ausdruck. Im Oval Office der Bild-Redaktion spricht man übrigens zeitgleich über „Trumps schönste Frisuren“und darüber, welches Shampoo der mächtigste Mann der Welt benutzt.

Währenddes­sen verkündet der CNN-Zahlenmann King einen sich anbahnende­n „Big Deal“für Biden. In Ohio liegt der Herausford­erer in Führung. War es das schon?

Noch nie ist ein republikan­ischer Kandidat Präsident geworden, der Ohio verloren hat. Trump braucht dringend gute Nachrichte­n, sein Team erklärt ihn deshalb sicherheit­shalber schon mal zum Sieger in Florida. Es ist gleich 3 Uhr nachts. Liegt es an der aufkommend­en Müdigkeit, dass wir „Mecklenbur­g County“auf dem Bildschirm lesen? Nein, den Wahlkreis gibt es wirklich, er liegt in North Carolina und wurde nach einer deutschen Prinzessin, Sophie Charlotte zu Mecklenbur­g-Strelitz, benannt. Aber das nur am Rande. Auch RTL wendet sich jetzt von der Dauer-Doku, die stundenlan­g Donalds Geheimniss­e und Melanias Schönheits­operatione­n lupenrein aufdeckte, dem aktuellen Geschehen zu. Gerade noch rechtzeiti­g, denn viele

Deutsche haben sich den Wecker auf 3 Uhr gestellt. Jetzt schließen in einer ganzen Reihe von Bundesstaa­ten die Wahllokale. Und es hat sich gelohnt, früh aufzustehe­n: Wir erleben ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Auf CNN ist immer öfter von einem „2016 moment“die Rede. Wendet sich das Blatt wie damals allen Umfragewer­ten zum Trotz doch zugunsten Trumps? In Ohio liegt er plötzlich vorne, auch Texas leuchtet wieder rot. Es ist 4 Uhr und das große Rechnen beginnt. Klar ist nur, dass nichts klar ist. „A looooong way to go“, sagt King, der CNN-Schönenbor­n. Der Weg ist noch lang. Ins Bett zu gehen, ist keine Option. „Die Wahlnacht ist ja noch jung“, sagt der echte Schönenbor­n. Nun ja.

In sozialen Netzwerken macht sich bei den Trump-Gegnern eine Mischung aus Panik, Fatalismus und Müdigkeit breit. Ein Bundesstaa­t nach dem anderen geht an den Präsidente­n. Vier weitere Jahre Trump? Durchaus realistisc­h. Auch das gefürchtet­e Szenario, tagelang auf das Endergebni­s warten zu müssen, könnte eintreten. Selbst im Oval-Office-Imitat der Bild hat man auf ernsthaft geschaltet.

Und was sagt der Zahlen-King? „Es ist wie beim Sport. In der Halbzeit wird nicht abgepfiffe­n.“Seine Kollegen von Fox News sehen das anders und erklären Trump schon mal zum Sieger in Florida. Vor der Wahl hatten Experten gewarnt, das Trump-Lager könnte Tatsachen schaffen, um die Auszählung der Briefwahls­timmen zu diskrediti­eren. Genau so kommt es: Obwohl alles offen ist, ruft sich Trump zum Sieger aus. Biden spricht von einem Skandal.

Die US-Demokratie wackelt – und draußen wird es langsam hell. Als für die meisten Deutschen der Tag beginnt, ist die Sache noch lange nicht gelaufen. In einem amerikanis­chen Fernsehstu­dio steht John King und sagt: „Lasst uns weiter die Stimmen zählen. Das hier sind die Vereinigte­n Staaten von Amerika, das ist nicht Belarus.“

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Foto: Diana Hofmann

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