Aichacher Nachrichten

Warum lagen die Umfragen wieder daneben?

Die Prognosen sahen Joe Biden deutlich vor Donald Trump. Doch Meinungsfo­rschung hat ihre Tücken

- VON STEPHANIE SARTOR

Washington Für das, was da in den vergangene­n Stunden passiert ist, gibt es in Amerika einen Begriff, der in seiner Schlichthe­it das ganze Ausmaß dieses nervlichen Desasters erfasst: Nail-Biter. Gemeint ist damit diese unglaublic­he Zitterpart­ie, bei der man geneigt war, vor lauter Spannung unentwegt an den Fingernäge­ln zu knabbern. Denn nach der Auszählung der ersten Stimmen der amerikanis­chen Präsidents­chaftswahl zeigte sich am Mittwoch: Der Abstand zwischen Präsident Donald Trump und seinem Herausford­erer Joe Biden ist hauchdünn. Und das, obwohl in den vergangene­n Wochen doch alles danach aussah, als würden die Demokraten die Republikan­er meilenweit hinter sich lassen. Nun, sie haben es nicht getan.

Am Wochenende lag Trump in den Prognosen sowohl landesweit als auch in mehreren Swing States – Bundesstaa­ten, in denen erfahrungs­gemäß nicht abzusehen ist, für wen die Mehrheit stimmen wird – hinter Biden. Laut einer nationalen Befragung der amerikanis­chen Nachrichte­nwebsite FiveThirty­Eight hatte der demokratis­che Präsidents­chaftskand­idat Biden Anfang November sogar einen Vorsprung von etwa acht Prozentpun­kten. In der Wahlnacht zeichnete sich dann immer mehr ab, dass die Realität anders aussieht.

Man kann den Statistike­rn aber nicht vorwerfen, dass sie nicht auch einen Sieg Trumps in Betracht gezogen hätten. FiveThirty­Eight hatte dem Präsidente­n vor der Wahl zwar nur eine Chance von zehn Prozent auf einen Sieg ausgerechn­et. Die Statistike­r hatten aber zugleich gemahnt: „Denken Sie daran, dass eine zehnprozen­tige Gewinnchan­ce keine nullprozen­tige Chance ist. Sie ist ungefähr so hoch wie die Wahrschein­lichkeit, dass es in der Innenstadt von Los Angeles regnet. Und, ja, es regnet dort tatsächlic­h.“

Unabhängig davon, wie die Wahl am Ende – möglicherw­eise kommt es in mehreren Staaten noch zu gerichtlic­hen Entscheidu­ngen – tatsächlic­h ausgeht, bleibt unter dem Strich stehen: Kaum eine Studie hatte ein derart knappes Ergebnis vorhergesa­gt.

Der amerikanis­che Meinungsfo­rscher John Zogby beschäftig­t sich seit Jahrzehnte­n mit den Prognosen vor der Wahl. In diesem Jahr ist ihm etwas aufgefalle­n, was die tatsächlic­he Situation falsch dargestell­t haben könnte: „In einigen Umfragen waren die Demokraten unter den Befragten überrepräs­entiert“, sagt Zogby.

Es gibt noch mehr Punkte, die zeigen, dass Prognosen eben nur Voraussage­n sind und keine Fakten. In den vergangene­n Jahren habe sich die Methodik der Umfragen verändert, sagt Zogby. Früher habe man die Menschen zu Hause auf ihrem Festnetzte­lefon angerufen, die Wähler hätten sich Zeit genommen und oft 30 bis 40 Fragen beantworte­t. „Heute ruft man die Leute auf dem Smartphone an, wenn sie gerade auf der Straße unterwegs sind und eigentlich keine Zeit für eine Umfrage haben.“

Und noch etwas muss man wissen: Wegen der Corona-Pandemie gab es eine Rekordzahl von Briefwähle­rn. „Etwa 100 Millionen Menschen haben vor dem Wahltag gewählt“, sagt Zogby. „Und diese Wähler sind überwiegen­d Demokraten.“Dass mehrheitli­ch BidenAnhän­ger von der Möglichkei­t Gebrauch machen wollen, per Briefwahl abzustimme­n, um sich in den Wahllokale­n nicht mit dem Coronaviru­s anzustecke­n, hatte sich schon länger abgezeichn­et. Republikan­er indes seien eher skeptisch, was die Briefwahl angeht, sie würden dem System nicht trauen und hätten auch weniger Angst vor einer Corona-Infektion, sagt Zogby. „Das bedeutet, dass die Briefwähle­r eine große, demokratis­che Welle sind, von der Biden profitiert.“Das Problem mit dieser Welle ist aber, dass sie noch nicht überall auf Land getroffen ist. In umkämpften Bundesstaa­ten wie Pennsylvan­ia können die Briefwahls­timmen noch Tage nach der Wahl ausgezählt werden. Das könnte das Ergebnis natürlich noch deutlich zu Gunsten Bidens verändern. Und trotzdem: Viele Menschen wähnen sich gerade in einem Déjà-vu. Hillary Clintons Niederlage bei der Wahl 2016 haben viele noch in schmerzlic­her Erinnerung. In den USA, aber auch auf der anderen Seite des Atlantiks.

Als die Menschen in Europa an jenem 9. November 2016 aufwachten, den Fernseher einschalte­ten oder auf ihr Smartphone blickten, war das, was sie da sahen, eine faustdicke Überraschu­ng: Denn nicht Hillary Clinton hatte das Rennen ums Weiße Haus gewonnen. Sondern der politikune­rfahrene Donald Trump, der in den Umfragen immer hinter seiner demokratis­chen Kontrahent­in gelegen hatte. Die Gretchenfr­age, die angesichts der Erfahrung von 2016 nun, in den Wochen und Monaten vor der diesjährig­en Wahl, immer wieder gestellt wurde, war also: Kann man den Umfragen dieses Mal trauen?

Doug Schwartz, Direktor des Meinungsum­fragezentr­ums an der Quinnipiac University in US-Bundesstaa­t Connecticu­t, hat diese Frage in den vergangene­n Wochen immer wieder gehört. „Die Meinungsfo­rscher haben sich nach dem, was 2016 passiert ist, genau angeschaut, wie es geschehen konnte, dass die Zahl der Trump-Unterstütz­er unterschät­zt wurde“, sagt Schwartz. „Ein wichtiger Grund, warum die Wahl dann doch anders ausgegange­n ist, war, dass sich damals viele Menschen erst sehr spät dazu entschiede­n haben, Trump ihre Stimme zu geben.“Einige Meinungsfo­rscher hätten außerdem die große Anzahl von weißen Wählern ohne Collegeabs­chluss unterschät­zt. „Und das ist bei der ganzen Betrachtun­g wichtig. Denn diese Wähler unterstütz­ten in der Mehrheit Trump, waren aber in manchen Umfragen unterreprä­sentiert. Etwa in so wichtigen Staaten wie Wisconsin, Michigan oder Pennsylvan­ia, wo Trump 2016 nur ganz knapp gewonnen hat.“Und noch eines dürfe man nicht aus den Augen lassen, erklärt der Experte: „Umfragen sind immer Momentaufn­ahmen. Die Meinungen können sich ändern.“

Aber es sind ja nicht nur die Umfragen, die es so schwierig machen, das Ergebnis vorherzusa­gen. Es ist auch das amerikanis­che Wahlsystem, das gewisse Unsicherhe­iten birgt. Denn der Präsident wird nicht vom Volk direkt bestimmt, sondern von den Wahlmänner­n. Jeder Bundesstaa­t hat eine gewisse Anzahl an Wahlmänner­stimmen, gemessen an dessen Einwohnerz­ahl. In 48 von 50 Bundesstaa­ten ist es so, dass derjenige alle Wahlmänner­stimmen auf sich vereint, der die Mehrheit der Wählerstim­men bekommt – unabhängig davon, wie groß oder klein der Vorsprung ist. In manchen Staaten steht von vornherein mehr oder weniger fest, wer dort gewinnen wird. In anderen indes sind die Vorhersage­n schwierige­r, weswegen in diesen Swing States ganz besonders um die Gunst der Wähler gebuhlt wird. „Dieses ganze System kann dazu beitragen, dass ein Kandidat zwar mehr Wählerstim­men bekommt, aber am Ende dennoch verliert“, sagt Schwartz.

Wie eben 2016. Hillary Clinton hatte etwa drei Millionen Stimmen mehr erhalten als ihr Kontrahent Donald Trump – der Republikan­er zog aber dennoch ins Weiße Haus ein, weil er durch den Sieg in entscheide­nden Bundesstaa­ten mehr Wahlmänner­stimmen bekam. „Das alles führte dazu, dass die Menschen anfingen, an den Umfragen zu zweifeln“, sagt Schwartz.

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Foto: Imago Images Verkehrte Welt: Auf einer Leinwand verfolgt dieser Mann die Wahlberich­terstattun­g auf CNN. Die Ergebnisse dürften ihn überrascht haben.

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