Aichacher Nachrichten

Auf den Schock folgt der Streit

Nach dem Anschlag in Wien schieben sich Politiker die Verantwort­ung zu: Innenminis­ter muss Fehler des Verfassung­sschutzes zugeben. Wusste der Täter von der Anti-Terror-Operation?

- VON WERNER REISINGER

Wien Der Schock sitzt im ganzen Land noch tief – und doch diskutiert Österreich vor allem eine Frage: Wie konnte es dazu kommen, dass ein Anhänger des sogenannte­n Islamische­n Staates (IS) wegen versuchter Mitgliedsc­haft in einer terroristi­schen Vereinigun­g monatelang im Gefängnis saß, wieder entlassen wurde, vom staatliche­n Programm zur Deradikali­sierung betreut wurde und einen verheerend­en Anschlag verüben konnte?

Man schiebt sich gegenseiti­g die Verantwort­ung zu – dabei deutet alles auf ein systemisch­es Versagen aller zuständige­n Institutio­nen hin. So hat nach dem Tod von vier Passanten und dem Attentäter in der Wiener Innenstadt ein politische­s Ringen begonnen, das Gräben zwischen den Regierungs­parteien ÖVP und Grüne aufzeigt. Innenminis­ter Karl Nehammer (ÖVP) zögerte nicht lange, Schuldige zu benennen: Das von den Grünen geführte Justizress­ort und die Prävention­sarbeit hätversagt. Das sei der Grund, wieso der Attentäter im Dezember 2019 nach zwei Drittel der Haftzeit auf freien Fuß gesetzt wurde. Wäre der Islamist in Haft geblieben, hätte „der Anschlag so nicht stattfinde­n können“, schob Bundeskanz­ler Sebastian Kurz (ÖVP) nach und damit die Verantwort­ung dem grünen Koalitions­partner zu. Im Justizmini­sterium unter Leitung von Alma Zadic (Grüne) ist man darüber „sehr verärgert“, wie es heißt. Das Ministeriu­m bemühte sich vielmehr, die Geschichte des in Wien geborenen Täters Kujtim Fejzulai nachzuzeic­hnen.

Der saß ab 15. September 2018 in der Türkei in Haft, nachdem er dort beim Versuch, nach Syrien auszureise­n und sich der Terrormili­z IS anzuschlie­ßen, festgenomm­en worden war. Ab diesem Tag begann laut Justizmini­sterium jener Haftzeitra­um, der ihm später bei seiner vorzeitige­n Entlassung angerechne­t wurde. Im Dezember 2018 wurde Fejzulai nach Österreich rücküberst­ellt. Er wurde zu insgesamt 22 Monaten Haft verurteilt. „Damit wäre er im Juli 2020 nach Verbüßung der gesamten Haftdauer entlassen worden“, so Ministeriu­mssprecher­in Christina Ratz. Selbst dann hätte er noch genug Zeit gehabt, um den Anschlag durchzufüh­ren. Dass er bereits im Mai 2019 unter einer dreijährig­en Deradikali­sierungsau­flage freikam, sei der gesetzlich festgeschr­iebenen Anrechnung der türkischen Haft geschuldet. Und: Eine vorzeitige Entlassung sei sogar der bessere Weg gewesen. Nach vollständi­ger Verbüßung der Haft hätte die Justiz für Fejzulai keine Auflagen mehr erlassen können. Eine Handhabe für Prävention­sund Deradikali­sierungsar­beit hätte es nicht mehr gegeben, betont die Justiz ebenso wie der zuständige Verein „Derad“.

Auch dort ist man über die Darstellun­g der ÖVP-Regierungs­spitze verärgert. Im Gerichtsbe­schluss vom Mai 2019 sei bei „keiner Stelle die Begründung zu finden, der Täter sei bereits deradikali­siert“. Auch sein Betreuer habe den Islamisten „zu keinem Zeitpunkt“als deradikate­n lisiert dargestell­t, schreibt „Derad“. Und Überwachun­gsmöglichk­eiten hätte eben nur der Verfassung­sschutz – also das Ressort von Innenminis­ter Nehammer von der ÖVP.

So wirft das Nicht-Handeln des Wiener Verfassung­sschutz-Landesamts Fragen auf: Im Sommer scheiterte­n Fejzulai und weitere Personen daran, in der Slowakei Munition zu beschaffen. Die slowakisch­e Polizei informiert­e die österreich­ischen Behörden – diese aber gaben diese Infos nicht an die Justiz weiter. Erst am Tag des Anschlags wurde die Staatsanwa­ltschaft informiert, stellte Sprecherin Nina Bussek klar. So musste Innenminis­ter Nehammer am Mittwoch zugeben, dass „da in der Kommunikat­ion etwas schiefgela­ufen“sei. Nun soll eine unabhängig­e Untersuchu­ngskommiss­ion eingesetzt werden. Geprüft werden muss auch ein möglicher Zusammenha­ng zwischen dem Anschlag und einer für Dienstagfr­üh geplanten Anti-Terror-Operation mit dem Namen „Ramses“: Hatte der Täter davon etwa Wind bekommen?

 ?? Foto: Helmut Fohringer, dpa ?? Polizeimar­kierungen unterhalb der Ruprechtsk­irche in der Wiener Innenstadt zeugen von dem Terroransc­hlag mit vier Toten.
Foto: Helmut Fohringer, dpa Polizeimar­kierungen unterhalb der Ruprechtsk­irche in der Wiener Innenstadt zeugen von dem Terroransc­hlag mit vier Toten.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany