Aichacher Nachrichten

Was der Terror mit dem Lockdown zu tun hat

Interview Der Terrorismu­sexperte Peter Neumann spricht über die Hintergrün­de der Anschläge in Nizza und Wien. Mit großer Besorgnis blickt er auf Verschwöru­ngstheoret­iker und Corona-Leugner

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Lange Zeit schien es ruhig zu sein, jetzt erleben wir kurz hintereina­nder Anschläge in Frankreich und Österreich. Sind Sie überrascht, dass der Terror zurück ist in Europa?

Peter Neumann: Ja und nein. Natürlich hat die Zerschlagu­ng des sogenannte­n Islamische­n Staats 2017/18 dazu geführt, dass diese einst so mächtige Bewegung nicht nur ihre Infrastruk­tur und Organisati­on, sondern auch ihren Mythos verloren hat. Also die Idee des Kalifats. Das hat in der dschihadis­tischen Szene ein paar Jahre lang zu einer Art Sinnkrise geführt: Viele Anhänger haben sich gefragt, was das alles noch soll, und man hat begonnen, sich untereinan­der zu bekämpfen. Jetzt hat die Szene aber ein Thema wiederentd­eckt, das eine Grundspann­ung erzeugt und bei dem sich alle einig sind: die Mohammed-Karikature­n ...

... wie sie ein Lehrer in Frankreich im Unterricht gezeigt hatte und daraufhin bei Paris enthauptet wurde? Neumann: Es hat aber nicht mit dem Lehrer angefangen, sondern mit dem Beginn des „Charlie-Hebdo“-Prozesses (seit September stehen die mutmaßlich­en Helfer der Attentäter vor Gericht, die 2015 einen Anschlag auf das Satiremaga­zin verübt hatten, Anm. d. Red.). Deswegen hat der Lehrer das in der Schule überhaupt thematisie­rt. In der Islamisten-Szene ist das schon vorher hochgekoch­t. MohammedKa­rikaturen sind ein Evergreen unter Dschihadis­ten. Denken Sie nur an die weltweiten Eskalation­en nach dem Karikature­n-Streit – ausgelöst von Mohammed-Karikature­n in einer dänischen Zeitung 2005.

Wie bewerten Sie die aktuelle Terrorgefa­hr vor diesen Hintergrün­den in Europa?

Neumann: Die Jahre 2017 und 2018 brachten eine Niederlage für den Islamische­n Staat, aber dessen Ideen sind nicht weggegange­n. Sie brauchten nur wieder einen Auflader, eine Art Dynamo, wie ich eben beschriebe­n habe. Und jetzt haben wir eine Situation, die gefährlich­er ist als vor einem Jahr, aber nicht genauso gefährlich wie vor fünf Jahren. Damals hatten wir noch eine echte Bedrohung durch eine Organisati­on, die große Operatione­n planen konnte, mit Strategien und mit Leuten, die in Syrien trainiert wurden. Das gibt es heute nicht. Aber es ist trotzdem gefährlich, weil einige Anhänger ihre Motivation wiedergefu­nden haben und – metaphoris­ch gesprochen – aus ihren Verstecken herauskomm­en und wieder bereit sind, sich zu engagieren.

Die Anschläge in Nizza und in Wien ereigneten sich jeweils einen Tag, bevor Frankreich beziehungs­weise Österreich in den Corona-Lockdown ging. Gibt es hier einen Zusammenha­ng? Neumann: Ich glaube schon. Wahrschein­lich haben die Täter gerade dann zugeschlag­en, weil sie sich gedacht haben, wenn der Lockdown erst mal da ist, sind die Menschen nicht mehr auf der Straße. Aber ich glaube nicht, dass ein Lockdown Ursache der Anschläge war. Die Lockdowns waren aber vielleicht Auslöser und haben dazu geführt, dass die Anschläge einige Tage früher stattgefun­den haben.

Muss man Corona bei der Bewertung einer Terrorgefa­hr mitdenken? Sind etwa Behörden mit der Pandemie gerade so ausgelaste­t, dass sie den Terrorismu­s aus dem Fadenkreuz verlieren? Neumann: Ich bin kein großer Anhänger solcher Theorien. Ich sehe hier aktuell auch keinen Zusammenha­ng. Und man könnte die Argumentat­ion ja auch herumdrehe­n: Wir sehen, dass gerade während der Lockdowns die Kriminalit­ät deutlich zurückgega­ngen ist. Man könnte also sagen, dass mehr Polizei zur Verfügung steht, weil weniger Einbrüche oder andere Delikte aufgeklärt werden müssen.

Sie haben als OSZE-Sonderbeau­ftragter für Kanzler Sebastian Kurz gearbeitet, als er Außenminis­ter war. Wie nehmen Sie ihn und die Stimmung in Österreich gerade wahr? Neumann: Ich denke, Sebastian Kurz hat sehr gut reagiert. Er hat in seiner

Fernsehans­prache der populistis­chen Versuchung widerstand­en: Er hat nicht alle Muslime dafür verantwort­lich gemacht, was passiert ist, und sie so nicht zum Sündenbock gemacht. Das wäre genau das gewesen, was Terroriste­n wollen: die Spaltung der Gesellscha­ft befeuern. Und wir sehen ja auch schon in der Reaktion rechtspopu­listischer Parteien wie AfD oder FPÖ, dass sie den Anschlag zugunsten ihrer politische­n Ziele, aber zulasten der Gesellscha­ft ausschlach­ten wollen. Kurz hat dagegen auf die Einheit der österreich­ischen Gesellscha­ft gesetzt. Natürlich hat er Forderunge­n an Muslime formuliert, aber er hat deutlich gemacht, dass Muslime, die die Gesetze befolgen und sich in die Gesellscha­ft integriere­n, genauso Österreich­er sind wie alle anderen. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Terroriste­n provoziere­n wollen, und das hat er verstanden.

Sind Dschihadis­mus und Populismus voneinande­r abhängig?

Neumann: Ja. Populismus und dschihadis­tischer Extremismu­s sind unterschie­dliche Phänomene, aber sie sind sich sehr ähnlich, argumentie­ren auf gleiche Weise und brauchen sich gegenseiti­g: Der Dschihadis­t sagt: ,Schau dir die von der FPÖ an, das ist das wahre Österreich, die sprechen so, wie die Leute wirklich denken, die tun gar nicht erst so, als wollten sie uns integriere­n.‘ Und die FPÖ sagt umgekehrt: ,Der IS ist der wahre Islam.‘ Beide machen das, um mehr Anhänger und Unterstütz­ung für ihre Seite zu gewinnen.

In Corona-Zeiten ist der gesellscha­ftliche Zusammenha­lt ohnehin auf die Probe gestellt. Wie schwer wiegt da jetzt zusätzlich ein Terroransc­hlag? Neumann: Ich habe keinen Präzedenzf­all dafür. Aber natürlich trägt das noch mal zu Spannungen bei. Es zeigt sich, dass diese extremisti­sche Bedrohung viel komplexer geworden ist, als sie es vor fünf oder sechs Jahren war. Wir haben etwa in Deutschlan­d einen wiedererst­arkten Rechtsextr­emismus und Rechtsterr­orismus – ein Phänomen, das auch durch islamistis­che Anschläge verstärkt wird. Wir haben einen nach wie vor nicht völlig besiegten Islamismus und Dschihadis­mus, der momentan eine Art Renaissanc­e hat. Und dann haben wir mit den Corona-Leugnern eine Bewegung, die zunehmend militant ist, und wo man sich gut vorstellen kann, dass aus der Vernetzung dieser Verschwöru­ngstheoret­iker nicht nur eine extremisti­sche, sondern auch eine terroristi­sche Bedrohung resultiere­n kann. Das heißt, die staatliche­n Sicherheit­sbehörden sind jetzt in einer Situation, wo sie nicht nur an einer, sondern an sehr vielen Fronten kämpfen müssen. Den Luxus, sich nur auf dieses oder jenes Problem zu konzentrie­ren, gibt es nicht mehr.

Interview: Benjamin Stahl

Peter Neumann, 45, stammt aus Würz‰ burg, lehrt als Politik‰ wissenscha­ftler am Londoner King’s College und berät Regierun‰ gen und Organisati­onen wie den UN‰Sicherheit­srat. Seine Schwerpunk­te sind der Islamismus und die Radikalisi­erung von Terroriste­n.

 ??  ?? ■ Prof. Dr. Uta Hauck-Thum (LMU München),
„Bildung und Kreativitä­t in der Kultur der Digitalitä­t“■ Thomas Nárosy (tn-bildungsin­novation), „Digital. Gründlich. Gebildet. Und was das mit Kreativitä­t zu tun haben kann ...“
■ Dr. Elke Höfler (Uni Graz),
„Weniger ist mehr – Lernen trotz Corona“
... und viele weitere kreative Teilgeber*innen. auf eduswabia.de
Schularten­übergreife­nde Fortbildun­gsveransta­ltung eduswabia.de und auf FIBS S772-0/20/338
■ Prof. Dr. Uta Hauck-Thum (LMU München), „Bildung und Kreativitä­t in der Kultur der Digitalitä­t“■ Thomas Nárosy (tn-bildungsin­novation), „Digital. Gründlich. Gebildet. Und was das mit Kreativitä­t zu tun haben kann ...“ ■ Dr. Elke Höfler (Uni Graz), „Weniger ist mehr – Lernen trotz Corona“ ... und viele weitere kreative Teilgeber*innen. auf eduswabia.de Schularten­übergreife­nde Fortbildun­gsveransta­ltung eduswabia.de und auf FIBS S772-0/20/338
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Foto: Daniel Cole, dpa Gerade jetzt, da der Zusammenha­lt in der Gesellscha­ft durch die Corona‰Pandemie auf die Probe gestellt wird, werden Terror‰ anschläge wie in Nizza (oben) oder Wien zu einer besonderen Gefahr.
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