Aichacher Nachrichten

Die Deutschen und ihre Soldaten

Der Experte Sönke Neitzel beschreibt die „Truppe“seit dem Kaiserreic­h. Heute schätzt er ihren Zustand als „kampfunfäh­ig“ein

- VON HARALD LOCH

Krieger brauchen Helden. Aber können Kriegsverb­recher Helden sein? Diese Frage stellt sich in der deutschen Militärges­chichte drängender als in der Tradition anderer Länder. So jedenfalls sieht es die politische Führung der Bundesrepu­blik – mittlerwei­le. Aber sah sie es immer so, sahen es alle so und wie sahen es die Militärs? Sönke Neitzel hat den deutschlan­dweit einzigen Lehrstuhl für Militärges­chichte/ Kulturgesc­hichte der Gewalt an der Universitä­t Potsdam inne. Jetzt legt er unter dem Titel „Deutsche Krieger“eine umfassende Militärges­chichte vom Kaiserreic­h bis zur Berliner Republik vor. Er geht von Sedan über Verdun, Weimar, den Blitzkrieg, über die Wehrmachts­verbrechen in Polen und der Sowjetunio­n bis zu Wiederaufr­üstung in beiden deutschen Staaten und deren Vereinigun­g und schließlic­h nach Kundus in Afghanista­n und endet beim gegenwärti­gen, seiner Einschätzu­ng nach „kampfunfäh­igen“Zustand der Bundeswehr.

Seine Aufmerksam­keit richtet sich auf die horizontal­e und die vertikale Kohäsion der „Truppe“. Es geht um Begriffe wie „Auftragsta­ktik“(die Übertragun­g von viel Entscheidu­ngshoheit auf die Truppenfüh­rer im Kampf), um Führung von vorne, also aus den Brennpunkt­en der Schlacht. Starke Kontinuitä­t stellt er in den „tribal cultures“der einzelnen Waffengatt­ungen (z. B. der Fallschirm­jäger) fest. Neitzel stellt die preußisch-deutsche Strategiet­radition vor, die die Bewegung und Umfassung des Gegners in den Mittelpunk­t rückt und die Feuerkraft, insbesonde­re die schwere Artillerie, eher vernachläs­sigt. Er führt exemplaris­ch die Überlegenh­eit des französisc­hen Generalsta­bs über den deutschen im Ersten Weltkrieg vor Augen und die Überlegenh­eit der deutschen Überraschu­ngsangriff­e im Zweiten. Den Krieg im Osten ab 1941 beschreibt er realistisc­h, er schont seine Leser nicht. Die Millionen Opfer und die ungeheuerl­ichen Verbrechen sind in dieser Eindringli­chkeit von deutschen Autoren bislang nicht aufgerufen worden.

Das alles sollte nach 1945 nicht vergessen, aber keineswegs thematisie­rt werden. Als der Kalte Krieg mit der Wiederbewa­ffnung im Westen die Wiedererla­ngung der staatliche­n Souveränit­ät befördern sollte und die USA die Wehrmachts­expertise im Kampf gegen Sowjetruss­land für wichtiger als die Besinnung auf den preußisch-deutschen Militarism­us hielten, stand anderes auf der Tagesordnu­ng. Neitzel beschreibt den überstürzt­en Aufbau der Bundeswehr, geht den militärisc­hen Lebensläuf­en der ersten Führungsge­neration nach. Unbegreifl­iches fördert er dabei zutage. Das Schlagwort von der „Inneren Führung“blieb weitgehend inhaltslee­r und die Vereidigun­g der Rekruten auf das Grundgeset­z konnte so schnell keinen Verfassung­spatriotis­mus bei den Soldaten erzeugen.

Im anderen deutschen Staat wurde die NVA in sowjetisch­em Sinne aufgebaut. Hier gab es keine Traditions­probleme. Es war eine Armee der Partei, deren militärisc­he Qualität im Westen hoch eingeschät­zt wurde. Wiederholt betont Neitzel, dass nach heutiger Kenntnis nicht davon ausgegange­n werden kann, dass im Osten ein Angriffskr­ieg geplant oder auch nur erwogen wurde. Wozu dann die ganze Hochrüstun­g in Ost wie West? Eine Frage, die sich heute zwischen den USA und Russland bzw. China wieder stellt.

Die aus beiden deutschen Staaten zusammenge­führte Bundeswehr wurde nach den völkerrech­tlichen Bestimmung­en des 2+4-Vertrages stark verkleiner­t und als „Friedensdi­vidende“so zusammenge­spart, dass sie gerade noch den Auslandsei­nsatz in Afghanista­n überstehen konnte. Die Berliner Politik versagte sogar den in Afghanista­n kämpfenden Soldaten eine realistisc­he Sinngebung für ihren Einsatz von Leib und Leben. Das vorgeblich­e Ziel der Befriedung des Landes und des Aufbaus demokratis­cher Strukturen war nie erreichbar. Tragisches Detail von dort: Der erste deutsche Soldat, der nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Krieg fiel, war ein Russlandde­utscher, dessen Vater noch für die Sowjetunio­n – ebenfalls in Afghanista­n – gekämpft hatte.

» Sönke Neitzel: Deutsche Krieger. Vom Kaiserreic­h bis zur Berliner Republik. Propyläen, 816 S., 35 ¤

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Foto: Schnörrer, dpa Als das Land wieder Soldaten brauchte: Die ersten Wehrpflich­tigen der Bundeswehr im Jahr 1957 beim Einrücken in die Kaserne.

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