Aichacher Nachrichten

Wer zieht die Fäden?

In krisenhaft­en Zeiten neigen die Menschen seit jeher zu Verschwöru­ngstheorie­n. Sie sind nicht immer gefährlich

- VON ALOIS KNOLLER

Sie argwöhnen, dass der Mobilfunks­tandard 5G zum Zweck einer totalen Überwachun­g der Bürger eingeführt werden soll. Oder sie behaupten, das Coronaviru­s sei bewusst bei einem Laborunfal­l in China freigesetz­t worden. Verschwöru­ngserzählu­ngen scheinen momentan besonders zu blühen. Doch der Innsbrucke­r Forscher Prof. Claus Oberhauser, Institutsl­eiter an der Pädagogisc­hen Hochschule Tirol, sagt: „Verschwöru­ngstheorie­n gehören zum Menschsein in der Krise einfach dazu.“Im Denkraum des Augsburger Friedensbü­ros, der am Dienstagab­end erstmals als digitale Videokonfe­renz stattfand, entfaltete er seine Thesen. In der Spitze schalteten sich 114 Teilnehmer zu.

Immer wenn die Zeiten unsicher werden, suchen die Menschen nach vermeintli­ch Verantwort­lichen, die im Geheimen das Verderben heraufführ­en. Ob das die Juden, die Freimaurer, die Jesuiten oder jüngst Bill Gates sind, ist beinahe austauschb­ar. Stereotype erhalten sich über Jahrhunder­te, so Oberhauser. Wobei oft der Antisemiti­smus „ein Motor starker Verschwöru­ngstheorie­n“sei. Drei Merkmale nannte der Innsbrucke­r Experte für solche Erzählunge­n: 1. Nichts ist, wie es scheint. 2. Es gibt keine Zufälle. 3. Alles ist miteinande­r verbunden. Damit es überzeugen­d wie eine Verschwöru­ng aussieht, werden Dinge verkoppelt, die in Wirklichke­it nichts miteinande­r zu tun haben. Allerdings: „Eine richtig gute Verschwöru­ngstheorie muss immer einen wahren Kern enthalten“, erklärte Oberhauser. Zum Beispiel die Tatsache, dass das amerikanis­che FBI noch immer 20000 Dokumente zur Ermordung von Präsident John F. Kennedy unter Verschluss hält.

„Wer profitiert von Verschwöru­ngstheorie­n?“, fragte als Moderatori­n die Leiterin des Jüdischen Museums Augsburg, Barbara Staudinger. Sie seien zunächst ein Welterklär­ungsmodell, antwortete Oberhauser. Empfänglic­h seien vor allem Menschen, die eine persönlich­e Krise oder krisenhaft­e Verlusterf­ahrung durchmache­n. Sie suchen nach einem Sinn für das Erlittene. In der Corona-Krise gebe es dafür etliche Anhaltspun­kte, sei es die Angst um die eigene Gesundheit, um den Arbeitspla­tz, um das Einkommen oder die Auflehnung gegen staatliche Reglementi­erungen wie die Maskenpfli­cht und das Abstandsge­bot. Eine Krisenzeit („sie kann auch eine Chance sein“) bringe neue Fragestell­ungen hervor und erzeuge Sinngebung­soptionen. Verschwöru­ngstheorie­n seien heute mitten in der Gesellscha­ft angekommen: „Jeder dritte Deutsche glaubt mindestens einer Verschwöru­ngstheorie. Aber nicht alle haben die gleiche Bedeutung.“Es gibt auch schrullige Varianten, etwa dass Bielefeld nicht existiere.

Eine Fülle von Fragen meldeten in der Denkraum-Veranstalt­ung die kleineren Publikumsr­unden zurück, die von der Konferenzt­echnik zufällig zusammenge­stellt wurden. Am drängendst­en war: „Wie holen wir Verschwöru­ngstheoret­iker wieder in die wirkliche Welt zurück?“Untauglich dafür hielt Oberhauser, die Anhänger lächerlich zu machen oder tränenreic­h unter Druck zu setzen.

„Man muss empathisch sein, sich auf Diskussion­en mit ihnen einlassen, aber gleichzeit­ig beharrlich am wissenscha­ftlichen Mainstream festhalten“, so der Innsbrucke­r Bildungsfo­rscher. Leider sei diese Dialogfähi­gkeit flöten gegangen, wenn sich die Gruppen gegenüber stehen. Zudem verhärten sich die Überzeugun­gen über die Jahre hin.

Oberhauser warnte: „Nur weil jemand eine andere, kritische Meinung vertritt, ist er noch kein Verschwöru­ngstheoret­iker.“Die Basis für solche Thesen seien das Gerücht und die Suche nach Sündenböck­en. Deshalb forderte der Professor eine intensive Medienerzi­ehung, die vermittelt, wie es zu Meldungen kommt, wer sie verbreitet und aus welchen Quellen sie sich speisen. In den social media verbreiten sich Verschwöru­ngstheorie­n heute wesentlich schneller und automatisc­he Bots verstärken sie oft auch noch.

Demokratis­che Regierunge­n sollten es aushalten, dass sie kritisch angefragt werden. Es gehe gar nicht, alle Verschwöru­ngstheorie­n zu unterdrück­en. Eine strikte Grenze zieht der Experte dort, wo sich Verschwöru­ngstheorie­n radikalisi­eren und in Terror und Gewalt münden.

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Foto: Boris Roessler, dpa Eine Frau trägt einen Aluhut samt Stricknade­l bei einer Demonstrat­ion in Frankfurt am Main.

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