Aichacher Nachrichten

Gibt es das spanische Corona‰Wunder?

Die Infektions­zahlen in Madrid sinken – trotz lockerer Regeln

- VON RALPH SCHULZE

Madrid Die Biergärten und Restaurant­s in der City sind voll. So voll, dass es in Madrids Altstadt schwierig ist, einen freien Tisch zu erwischen. Die meisten Gäste sitzen ohne Maske am Tisch. „Die Party geht auch während der Pandemie weiter“, titelt Spaniens einflussre­ichste Zeitung El País – und Madrids konservati­ver Bürgermeis­ter, José-Luis Martínez Almeida, befördert die Feierei: Er forderte die 3,3 Millionen Hauptstadt­bewohner ausdrückli­ch auf, „draußen einen trinken zu gehen“.

Während ein Großteil Europas die Ausgangsbe­schränkung­en verschärft, werden sie von der Regionalre­gierung der Hauptstadt gelockert. Gasthäuser und Bierschenk­en dürfen bis Mitternach­t aufbleiben. Auch Fitnessstu­dios, Kinos und Theater sind geöffnet – und die offiziell gemeldeten Ansteckung­szahlen gehen zurück. Was ist dran am „Wunder von Madrid“, das Spaniens konservati­ve Presse ausgerufen hat?

Die konservati­ve Ministerpr­äsidentin der Hauptstadt­region, Isabel Díaz Ayuso, sieht die auffallend starke Verringeru­ng der Fallzahlen als Beispiel dafür, dass man Corona auch ohne harte Beschränku­ngen in den Griff bekommen kann. „Unsere Maßnahmen funktionie­ren“, verkündet Ayuso. Doch namhafte spanische Epidemiolo­gen melden Zweifel an dieser Erfolgsmel­dung an: Sie verweisen darauf, dass die

Fallzahlen in Madrid von dem Tag an zurückging­en, als Ayuso Strategieä­nderungen anordnete: Denn nachdem Madrids Gesundheit­ssystem Ende September vor dem Kollaps gestanden hatte, wurden die bis dahin benutzten aufwendige­n PCRCorona-Tests zunehmend durch weniger zuverlässi­ge AntigenSch­nelltests ersetzt. Zudem werden seitdem Kontaktper­sonen von Infizierte­n nicht mehr getestet.

Der Zusammenha­ng zwischen Strategieä­nderung und dem Rückgang der registrier­ten Fallzahlen sei ziemlich eindeutig, sagt der Mediziner Miguel Ángel Royo, Sprecher des spanischen Epidemiolo­gen-Verbandes. „Wenn man weniger Tests macht, und wenn man AntigenTes­ts statt PCR-Tests macht, entdeckt man weniger Fälle.“Ist also das „Wunder“nur statistisc­he Trickserei?

Einige nackte Daten, die sich nicht so einfach beschönige­n lassen,

Noch immer liegt die Inzidenz bei 300 Fällen

sprechen in der Tat dafür, dass sich die Situation nicht derart verbessert hat, wie es die Verantwort­lichen glauben machen möchten. So sind zum Beispiel die meisten Intensivst­ationen der Madrider Krankenhäu­ser wie schon im September bis auf das letzte Bett gefüllt und der Betrieb kann wieder nur mit improvisie­rten Erweiterun­gen der Behandlung­splätze aufrecht erhalten werden.

Auch in der Todesopfer­statistik spiegelt sich kein „Wunder“: Die Zahl der bestätigte­n Covid-19-Toten ist seit September nicht gesunken, sondern leicht gestiegen. Allein in den vergangene­n vier Wochen starben in Madrid 1074 Menschen.

Statistisc­h hat sich die Ansteckung­szahl in der Hauptstadt in den vergangene­n sechs Wochen halbiert. Die 14-Tage-Inzidenz liegt derzeit dennoch bei weit über 300 Fällen pro 100000 Einwohner. Die Rate positiver Tests befindet sich bei über acht Prozent. Damit gehört Madrid nach der Definition des EUZentrums zur Epidemiebe­kämpfung (ECDC) immer noch zu den europäisch­en Hochrisiko­zonen. Deshalb von einem Wunder zu reden, mutet da fast schon etwas zynisch an.

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Foto: Rubio, dpa Madrids Bürgermeis­ter riet, mal wieder einen trinken zu gehen.

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