Aichacher Nachrichten

Sex‰Szene mit einer 13‰Jährigen

Sensation oder Skandal? Nach über 20 Jahren liegt nun das Debüt des Starautors Karl Ove Knausgård übersetzt vor. Es führt an die Grenzen zwischen Roman und Wirklichke­it

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Die Sensation war eine beträchtli­che, aber in nationalen Grenzen. Ein 30-jähriger Autor gewann in Norwegen als erster gleich mit seinem Debütroman den renommiert­esten Literaturp­reis, den Kritikerpr­isen. Von Skandal damals keine Spur, auch wenn in „Aus der Welt“sehr explizit erzählt wird, wie ein 26-jähriger Aushilfsle­hrer einer 13-jährigen Schülerin verfällt – und auch, wie er mit ihr Sex hat. Denn hat es das in der Literatur nicht schon in allen Schattieru­ngen gegeben, von Nabokovs „Lolita“bis zu Henry Millers „Opus Pistorum“?

Gut 20 Jahre später nun ist der Autor ein grenzenlos­es Phänomen. Karl Ove Knausgård ist inzwischen mit einer sechsteili­gen Romanserie, die im Original „Mein Kampf“, auf Deutsch freilich anders heißt, zur Weltmarke geworden. Und so, wie nun alles von ihm im aufwendige­n Promi-Format erscheint, seien es Bücher mit Notizen zu den Jahreszeit­en oder ausschweif­enden Gedanken über den Maler Edvard Munch – so erscheint auch sein literarisc­hes Debüt nach und nach in alle Welt übersetzt, nun erstmals auch auf Deutsch. Und ist seitdem in immer neuen Wellen ein mal größerer, mal kleiner Skandal. Ein einfach nachgeholt­er in sehr viel sensibler gewordenen Zeiten angesichts einer sinnlich geschilder­ten Missbrauch­sszene und der trotz Flucht und Erschrecke­n des Lehrers Henrik auch danach weitergehe­nden Sehnsucht nach der Kindfrau Miriam?

Undenkbar und unfassbar erscheint heute jedenfalls, dass „Aus der Welt“wie im damaligen Original auf dem Cover das Ganzkörper­foto eines stehenden nackten Mädchens von hinten zeigte. Auf der deutschen Ausgabe ist nun die Aufnahme eines Örtchens an einem winterlich­en Fjord zu sehen, vom Bruder des Autors fotografie­rt. Der Ort des Geschehens?

Tatsächlic­h jedenfalls hat jener Karl Ove Knausgård mit 26 einen Winter in jenem baumlosen nordnorweg­ischen Kaff als Aushilfsle­hrer verbracht – das wissen die Leser seiner „Mein Kampf“-Serie längst. Sie wissen von den sozialen und sexuellen Hemmnissen, auch von unmoralisc­hen Begierden, die der Autor ausführlic­h zum Thema gemacht hat, sie wissen von den Eheproblem­en des sechsfache­n Vaters, deren öffentlich­e Schilderun­g seine damalige Frau zur Selbsteinw­eisung in die Psychiatri­e getrieben hat. Denn das Ich, das sich in jenen Romanen schonungsl­os für sich und sein Umfeld offenbart, heißt wie der Autor: Karl Ove Knausgård. Spätestens die literarisc­he Aufarbeitu­ng des Todes seines Vaters, mit dem die Serie anhebt, spätestens mit dem Band „Sterben“sei, so hatte der Schriftste­ller erklärt, die Aufarbeitu­ng nur noch unter seinem eigenen Namen möglich gewesen. Und ausgerechn­et mit diesem autobiogra­fischen Schreiben nahm das Leben als Romanautor, von dem der Norweger von Jugend an geträumt hatte, dramatisch an Fahrt auf. Und gerade die Authentizi­tät dieses Lebenszeug­nisses, das wiederum zu dramatisch­en Verwerfung­en im Leben des Autors geführt hat, war für die Wirkung dieses Schreibens essenziell.

Das Lehrer-Ich in „Aus der Welt“aber heißt noch Henrik Vankel, eine fiktive Figur. Und sie diente dem jungen Autor nicht etwa zum noch versteckte­n Eingeständ­nis eigener Untaten, die er später wieder verbarg – sondern zu einem ausufernde­n Gedankenex­periment, das dieser Roman darstellt. Knausgård nämlich lehnt seine Figur bereits durchaus stark an die eigene Geschichte an, ergründet nach dem Schildern des Missbrauch­s etwa die Beziehunge­n, denen er selbst entstammt, die Verhältnis­se seiner Großeltern, die problembel­adene Ehe seiner Eltern. Das ist der eine Pol. Der andere sind essayistis­che Passagen, in denen er über die Gestalt und die Rolle der Literatur sinniert, über das Verhältnis von

Schreiben und Wirklichke­it, etwa beim Schritt von Flaubert zu Joyce, aber auch über Dante und Kant. So wird das Vergehen der Parallelfi­gur Henrik für den schreibend­en Karl Ove zum Spiegel einer Identitäts­befragung – titelgemäß auch darüber: Wie schnell fällt man aus der Welt, warum fällt man und wohin? Das ist, bei aller typischen Langatmigk­eit und Detailvers­essenheit, wieder ein interessan­ter literarisc­her Grenzgang. Und so gar nicht skandalös?

Nun ja, Mittel waren Knausgård für seine literarisc­he Karriere schon immer alle recht. Und dass ihm hier der Missbrauch einer 13-Jährigen zum fiktiven Instrument wird (was ihm der Tod des eigenen Vaters nicht mehr sein konnte) und statt des Opfers der Täter in seinem Verhängnis dabei eher empathisch begleitet und familienps­ychologisc­h sowie literaturp­hilosophis­ch beleuchtet wird, das ist durchaus eine grenzwerti­ge Zumutung. Aber davon freilich strotzt die Geschichte des Romans. Und ja nicht ohne Grund. Die Provokatio­n kann eine klassische Methode der (Selbst-) Aufklärung sein – und ein modernes Erfolgsrez­ept. Bei Knausgård ist es beides. Das macht es so grenzwerti­g schwer mit ihm.

» Karl Ove Knausgård: Aus der Welt. Übs. Paul Berf. Luchterhan­d, 928 S., 26 ¤

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Foto: Thomas Wågström Heute ist Karl Ove Knausgård 51 Jahre alt und eine Marke in der Literaturw­elt. Er hat sich seinen Lebenstrau­m erfüllt – zu einem hohen Preis.

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