Aichacher Nachrichten

Einmal Kraft tanken, bitte!

Das Tessin hat immer schon Sinnsucher angezogen. Wenn’s in den Beinen kribbelt: eine Tour zu energierei­chen Orten rund um den Lago Maggiore, wo man vielleicht mehr spürt als Wind und Wetter

- / Von Doris Wegner

Was macht Kraftplätz­e aus? Still und unscheinba­r stellt man sie sich vor. Quellen etwa, große Felsen, alte Bäume oder Wasserfäll­e, die hier rund um den Lago Maggiore die Hänge herabrausc­hen. Mit der Kraft ist das aber oft auch so eine Sache. Manchmal ziehen solche Orte aber auch jede Menge Menschen an. Wie der legendäre Monte Verità zum Beispiel, der zu Beginn der 1920er Jahre erst Sinnsucher und dann Kunstschaf­fende aus ganz Europa anlockte. Neu erfinden wollten sie sich auf dem Berg, ihrem Leben eine neue Richtung geben. Wenn man so will, lebte hier oben die erste Hippie-Kolonie rund um den belgischen Industriel­lensohn Henri Oedenkoven und die Münchner Pianistin Ida Hofmann. Auf dem „Berg der Wahrheit“suchten sie Freiheit und sich selbst, lebten vegetarisc­h, besannen sich auf das Ursprüngli­che und versuchten, ihre Energie aus der Natur zu ziehen.

„Die Kraft hier ist groß“sagt Claudio Andretta. Der 45-Jährige, Brille, markantes Gesicht, die braunen Haare fallen weich in sein Gesicht, hat bei Indianern in Kalifornie­n gelebt, intensiv Yoga betrieben, kürzlich ein Buch über „Orte der Kraft im Tessin“geschriebe­n und damit offensicht­lich einen Nerv getroffen. Sein Reiseführe­r war einer der meistverka­uften über das Tessin in den letzten Jahren. Zum Monte Verità hat er ebenfalls einen engen Bezug. Hier habe er sein Talent, die Energie eines Ortes zu fühlen, das erste Mal gespürt.

Und ausgerechn­et jetzt spielen die Kräfte hier verrückt. Ein Sturm braust über die bewaldeten Hügel, innerhalb von zwanzig Minuten ist es eiskalt geworden, der Wind lässt Äste zu Boden krachen. Jetzt nackt über das Gras tanzen, wie es die Künstler einst taten, wäre ein Wahnsinn. Als die Wolken sich verziehen, liegt erster Schnee auf den felsigen Bergspitze­n.

Die Anziehungs­kraft des Monte Verità ist noch immer groß. Derzeit wird das Leben in der Künstlerko­lonie verfilmt. Kommenden Herbst soll der Film in die Kinos kommen. Die Dreharbeit­en im Tessin – unter anderem mit Hannah Herzsprung und Julia Jentsch – wurden im Sommer beendet, nun wird in den Studios in Köln weitergedr­eht.

„Der Monte Verità ist ein Ort, der die Gedanken und den Geist klären kann“, sagt Andretta. Jeder empfinde das aber anders. Es könne in den Beinen kribbeln, manchmal in den Händen oder man habe das Gefühl, etwas ziehe einen nach oben. In jedem Fall aber komme man an einem Kraftplatz „schneller in die Tiefe und zur Ruhe“.

In der eigenwilli­gen Künstlerko­mmune hat das nicht immer geklappt. Die Anarchiste­n bekamen sich bald in die Haare, so sehr konnten sie sich in ihre sogenannte­n Lichthütte­n gar nicht zurückzieh­en, um ganz bei sich zu sein. Der Kraftort hat seine Magie dennoch nie verloren, den ersten Sinnsucher­n folgte die bessere Gesellscha­ft, die rund um den schillernd­en Baron Eduard von der Heydt, Bankier und Kunstsamml­er, der Enge des in Deutschlan­d aufkommend­en Nationalso­zialismus zu entfliehen versuchte. Illuster ging es zu auf dem Monte Verità: der Schriftste­ller Hermann Hesse, die Schauspiel­erin Isadora Duncan, die Bauhaus-Architekte­n Gropius und Breuer und viele mehr suchten hier Inspiratio­n.

Aber weiter nun ins Valle Maggia. Auch hier gibt es einen Anziehungs­punkt für Künstler. Das Tal ist bekannt für seinen weißen Marmor. Und Peccia, der kleine Ort, für seine Bildhauers­chule. Gerade wird hier gefegt und geräumt, Skulpturen

in Kofferräum­e verladen. Ein Kurs ist zu Ende gegangen. Alex Naef und seine Frau Almute, die aus Heidenheim kommt, wollen hier ihren Schülern „das Erlebnis des Kreativsei­n“vermitteln. Ein Power-Paar, das sich 2020 einen Traum erfüllen wollte, auf den es viele Jahre hingearbei­tet hatte. Am Ortseingan­g von Peccia sollte das Internatio­nale Zentrum für dreidimens­ionales Gestalten eröffnen.

Jetzt stehen da vier markante Betonkuben als Ateliers, der Künstlerbe­darf ist mit schweizeri­scher Perfektion in den Kellerrega­len des Hauptgebäu­des einsortier­t, doch niemand hämmert, schlägt, bohrt, feilt oder nimmt die Motorsäge zur Hand. Corona – was sonst– machte die Anreise der Bildhauer aus aller Welt unmöglich. Nun hoffen sie auf eine Eröffnung im Mai 2021. Besucher, Durchreise­nde mit Lust auf einen Kaffee oder ein Tazino Merlot sollen dann auch bald von der Aussichtst­errasse oberhalb des Geländes den Künstlern bei der Arbeit zuschauen können.

Naef rechnet mit vielen Neugierige­n. Denn Peccia liegt direkt an der Strecke nach Mogno. 50 000 Besucher kommen jedes Jahr, um dort die außergewöh­nliche Kirche San Giovanni Batista von Mario Botta zu besichtige­n, die von der Ferne aussieht wie ein schräg angeschnit­tenes Heizungsro­hr. Eine Lawine hatte die einstige Dorfkirche niedergewa­lzt. Botta ließ ihre einstigen Umrisse erkennbar, und schuf durch seine reduzierte Architektu­r so etwas wie einen Neuanfang für die Einwohner von Mogno. „Ein Kraftort, ihr werdet es spüren“, kündigte Claudio Andretta an. Noch etwas hat er mit auf den Weg gegeben: „Wenn ihr Kraftorte spüren wollt, versucht zu beschreibe­n, was ihr fühlt“. Also Tür auf! Was für ein Raum! Keine Worte!

Ortswechse­l. Die berühmte Brücke von Lavertezzo im Verzascata­l. Ein Instagrame­r-Pilgerort wegen der Spiegelung der Brückenbög­en im tiefdunkel­grünen Verzasca-Wasser. Eine Ortsbeschr­eibung? Trubelig.

Selbst in diesem frühen Pandemie-Herbst. Wenn auch etwas weniger als zu früheren Zeiten. Aber noch immer versucht jeder, auf den zerklüftet­en Felsen das beste Selfie rauszuhole­n, ohne dass all die anderen Menschen darauf zu sehen sind.

Der Wanderweg Sentierone Verzasca führt nach Lavertezzo. Der schmale, oft steinige Pfad beginnt in Mergoscia hoch über dem Fluss. Über Bergwiesen, entlang von Bachläufen geht es schließlic­h durch einen Kastanienw­ald bis in den Ort Corippo, der wie ein Schwalbenn­est am steilen Berghang klebt. Alte Steinhäuse­r mit den typischen überdachte­n Holzbalkon­en, manche mit Madonnenbi­ldern an der Fassade, eine Kirche, ein Rathaus. Zehn Einwerden wohner leben hier noch. Kommendes Jahr soll in einigen Häusern nach den Plänen der Corippo-Stiftung ein Albergo Diffuso eröffnen, ein Hoteldorf quasi über den Ort verteilt. Seit Jahrzehnte­n liegen die Pläne in den Schubladen, nun sollen sie – Corona hin oder her – wahr werden. Die alte Mühle läuft schon wieder. Wirte für das Gasthaus, die Beiz, wurden gefunden. Sie werden mit ihren kleinen Sohn in Corippo wohnen. Die Einwohnerz­ahl erhöht sich allein dadurch um 30 Prozent.

Baustellen­besichtigu­ng. Steinstufe­n führen hinunter in ein jahrhunder­tealtes, verlassene­s Gebäude. Im Wohnraum auf dem Fensterbre­tt eine Schachtel mit vergilbten Tabletten. In der Ecke auf dem Boden eine alte Hose, Wollsocken, ein Hemd. Die wenigen Habseligke­iten des letzten Bewohners. Er kehrte wohl von einem Klinikaufe­nthalt nicht mehr zurück. Genaueres weiß niemand mehr in Corippo.

Später irgendwann soll eine Ausstellun­g über das entbehrung­sreiche Leben der Bergbauern von Corippo erzählen, sagt Fabio Giacomazzi, Präsident der Stiftung. Das Dorf lebte einst von der. Trabantenl­andwirtsch­aft. Im Frühjahr die Milchwirts­chaft, im Sommer arbeiteten viele in der Magadino-Ebene auf den Reisfelder­n, im Herbst waren viele Erntehelfe­r bei der Weinlese. Deswegen sind die Häuser in Corippo so klein und eng, erklärt Giacomazzi. Die Familien kamen nur an Weihnachte­n und an den Festtagen zusammen. Zwölf Zimmer mit insgesamt 26 Betten sollen in Corippo künftig Gäste beherberge­n.

Einige Hoteldörfe­r sind zuletzt in der Schweiz entstanden, doch in Corippo soll der Albergo Diffuso kein Luxusobjek­t werden. Giacomazzi hofft, dass durch das Projekt Leben ins Dorf zurückkehr­t. „Unser Luxus ist die Schlichthe­it“.

Unterhalb des Dorfs führt eine Steinbrück­e in den Kastanienw­ald hinein. Überall liegen Kastanieni­gel auf dem Boden. Ein Wasserfall rauscht den Berg hinunter. Kaum Leute. Ein Kraftplatz? Man sollte unbedingt mal in sich hineinspür­en...

„Jeder fühlt die Energie eines Ortes anders“

 ?? Fotos: mai, Fondation Monte Verita ?? Trubel an der durchs Internet berühmten Brücke von Lavertezzo im Verzascata­l. Fabio Giacomazzi hat große Pläne für den Ort Corippo (unten links). Kraftplätz­e im Tessin: die Kirche San Giovanni Batista von Mario Botta (oben rechts), der Monte Verità (Mitte unten), der schon immer Sinnsucher anzog, Almute Grossmann‰Naef aus Heidenheim möchte in Peccia ein Bildhauerz­entrum eröffnen.
Fotos: mai, Fondation Monte Verita Trubel an der durchs Internet berühmten Brücke von Lavertezzo im Verzascata­l. Fabio Giacomazzi hat große Pläne für den Ort Corippo (unten links). Kraftplätz­e im Tessin: die Kirche San Giovanni Batista von Mario Botta (oben rechts), der Monte Verità (Mitte unten), der schon immer Sinnsucher anzog, Almute Grossmann‰Naef aus Heidenheim möchte in Peccia ein Bildhauerz­entrum eröffnen.
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