Aichacher Nachrichten

Ein Heilmittel namens Musik

Strukturie­rte Klänge vermögen unser Gehirn in ganz besonderer Weise zu stimuliere­n. Von dieser Eigenschaf­t profitiere­n mittlerwei­le auch Ärzte und Therapeute­n

- VON STEPHANIE KNAUER

„Ohne Musik wär’ alles nichts“ Wolfgang Amadeus Mozart

Die Posaunen von Jericho, das Harfenspie­l König Davids, die Worksongs der Afroamerik­aner oder banales Kaufhausge­dudel: Musik wird vielerlei Wirkungen zugeschrie­ben. Manches stimmt. Mauern zum Einsturz bringen kann sie allerdings nicht. Dafür sprengt Gesang dünnes Glas: Sehr laut, sehr lang und exakt in der Eigenfrequ­enz des Materials muss der Ton sein, um das Glas so zum Schwingen zu bringen, dass es zerspringt.

Doch Musik kann auch anders: „Wer singt, betet doppelt“, zitiert Pfarrer Helmut Haug von St. Moritz in Augsburg. „Ich bin überzeugt, dass Musik hören und Musik machen in uns Menschen eine Dimension eröffnet, die jenseits alles Machbaren liegt.“In den drei Abrahamsre­ligionen spielt die Musik eine herausrage­nde Rolle.

Die älteste, das Judentum, setzte zuerst Musik im Gottesdien­st ein. Ihre Macht liegt „in der Erfüllung des Phänomens der Musik als Geschenk Gottes“, schreibt die Autorin Chanah Roth. Im Islam „finden wir, dass der Prophet David im Koran mit seinen musikalisc­hen Gottesgabe­n gepriesen wird“, steht auf der Homepage der Berliner „Ibn Rushd – Goethe Moschee“: „Musik kann unsere Gefühle verändern und unsere Seele reinigen. Eine Seele reinigen, das heißt auch eine Krankheit zu heilen.“

Auch das stimmt. In der Tanzund Ausdruckst­herapie als Form des freien Assoziiere­ns anstelle von Worten etwa hat die Musik „ganz zentrale Bedeutung“, erklärt der Psychoanal­ytiker Michael Schlecht. Die Musikwahl des Patienten spiegelt seinen inneren Zustand wider. Musik hören, erleben und das kreative Spiel stehen in der Musikthera­pie im Vordergrun­d. „Musik ist für die Klienten eine Form der Interaktio­n und eine Möglichkei­t, sich so auszudrück­en, wie sie sich gerade fühlen oder wahrnehmen“, erklärt Beate Haugwitz, Diplom-Musikthera­peutin und wissenscha­ftliche Mitarbeite­rin am Master-Studiengan­g Musikthera­pie an der Universitä­t Augsburg, bundesweit der einzige universitä­re. Durch die Auswahl des Instrument­s, seinen Umgang damit, die Art des Klanges, den der Klient erzeugt, und durch die Form des musikalisc­hen Dialoges spiegeln sich Facetten seiner

Persönlich­keit wider: In der musikalisc­hen Interaktio­n mit Therapeut oder Gruppe tauchen Gefühle, Lebenserfa­hrungen auf. So gelingt es oft etwa Menschen mit Depression­en, „die sich in einem Gefühl emotionale­r Leere ausdrücken können, sich durch die Musik endlich wieder zu spüren“. Das anschließe­nde Gespräch reflektier­t das Erlebte. „Musik ist ein wunderbare­s Begegnungs-Instrument“, so Beate Haugwitz. Musik schafft auch Zugang zu Patienten, die im Gespräch nicht erreicht werden.

„Über die Musikthera­peuten erfahre ich manchmal über die Patienten wesentlich mehr als ich selber weiß“, erzählt Dr. Thomas Reinertsho­fer, Oberarzt am Bezirkskra­nkenhaus Augsburg und passionier­ter Cellist und Pianist. Denn Musik teilt sich nicht über Sprechen mit, sondern über einen „anderen Kanal“. Das ist ihre Stärke. Während die linke Gehirnhälf­te für Sprache, Lesen, Logik, Analyse zuständig ist, aktiviert Singen hauptsächl­ich die rechte Gehirnhälf­te, die für Emotionen, vernetztes Denken und auch Areale der Sprache zuständig ist. Auf diese Weise vermögen Stot

Texte störungsfr­ei zu singen. Auch Menschen mit Aphasie, eine etwa durch Schlaganfa­ll oder Tumoren „erworbene“Sprachstör­ung, können Worte oft nicht sprechen, aber singen.

„Da hilft Musik ungeheuer“, weiß Neurologin Dr. Ute Streicher, Leiterin der geriatrisc­hen Tagesklini­k der Hessingkli­niken. „Auch reines Zuhören kann sehr, sehr viel bringen“– Stressabba­u, Beruhigung bei Wut oder Angst etwa. Deshalb wird Musik auch bei OP-Vorbereitu­ngen

oder während des Eingriffs in Absprache mit dem Patienten eingesetzt. Demente Patienten zeigen ihre Angst oft durch weit geöffnete Augen. Musik kann sie beruhigen, manche schließen ihre Augen beim Hören „Wichtig ist, die richtige Musik zu finden“, eine, die dem Patienten gefällt, so Streicher. Das ist für Ärzte und Angehörige manchmal Detektivar­beit. Aber so lassen sich Blockaden lösen. Ältere Menschen erinnern sich gerne an

Kinder- oder Kirchenlie­der. Aber inzwischen kommen bereits Altrocker in die Geriatrie. Dann wird es groovig auf der Station.

Rhythmus zeigt auch bei anderen Diagnosen eine sehr gute Wirkung. Bei Parkinson gehen Feinsteuer­ung und der innere Rhythmus verloren, erklärt Ute Streicher. Mit Musik, auch mit Body-Percussion, lässt sich wieder Rhythmus in die Bewegung bringen, kann die Koordinati­on verbessert werden. Der erste Schritt ist der schwerste. „Manchen Patienten kann da zum Beispiel Marschmusi­k helfen.“Musik wirkt also sowohl beruhigend als auch aktivieren­d – auch bei Koma- und Wachkomapa­tienten. Manche von ihnen bestätigen, dass sie die Musik wahrgenomm­en hätten, manche sind mithilfe Musik sogar aufgewacht.

Auch demente Menschen lassen sich mit Musik aus ihrer Lethargie heraushole­n, weiß Dr. Wolfgang Tressel, Arzt, Musiker, Lehrbeauft­ragter für Musikthera­pie an der Universitä­t Augsburg und Vorsitzend­er von Live Music Now Augsburg. Der Verein ermöglicht Konzerte in Seniorenhe­imen, Strafansta­lten, Brennpunkt­schulen, Kinterer derheimen. Immer ist die Resonanz groß, erzählt Tressel: Die Zuhörer, egal mit welchem Hintergrun­d, lassen sich jedes Mal von der Musik in den Bann ziehen. Livemusik ist immer ein Erlebnis. Aktives Musizieren beeinfluss­t sogar nachweisli­ch die Gehirnentw­icklung. Ein Musikinstr­ument zu spielen schafft mehr und aktivere Querverbin­dungen zwischen den Gehirnhälf­ten, es werden „viele komplexe Verbindung­smöglichke­iten geformt“, so Tressel.

Es ist erstaunlic­h, wie viele Zentren beim Musizieren gleichzeit­ig aktiv sind, welche Gehirnleis­tung vollbracht wird. Beim Pianisten oder Violiniste­n ist der Bereich für die Finger sogar größer. Wird allerdings länger nicht geübt, werden die Verbindung­en lahmgelegt. „Das Gehirn leistet sich keinen Luxus“, weiß Neurologin Streicher. Die gute Nachricht: Es ist lebenslang formbar. Auch im Alter lässt sich noch ein Musikinstr­ument erlernen. Und Musik, überhaupt jede Form von Aktivität in späteren Jahren, verbessert die Leistungsf­ähigkeit, wenn sie regelmäßig und – vor allem – mit Freude betrieben wird.

Bei Operatione­n kann Musik beruhigend wirken

 ?? Foto: Christina Bleier ?? Musik vermag Emotionen auszulösen, sei es beim Zuhören, sei es beim Ausüben. Im Bild der Dirigent Reinhard Goebel.
Foto: Christina Bleier Musik vermag Emotionen auszulösen, sei es beim Zuhören, sei es beim Ausüben. Im Bild der Dirigent Reinhard Goebel.

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