Aichacher Nachrichten

Sally Rooney bekommt Gesellscha­ft

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PEdith hier, Julian da – die 22-jährige Ava versucht in Naoise Dolans Debütroman „Aufregende Zeiten“vergeblich, ihren Gefühlen Fesseln anzulegen. Die junge Irin unterricht­et an einem Institut in Hongkong Englisch und hat sich eigentlich bei dem gefühlskal­ten Banker Julian einquartie­rt. Der sitzt im Turm seiner erreichten Ziele und kann keine Emotionen an sich ranlassen, da er die grenzenlos­e Langeweile in seinem Leben dann nicht länger ignorieren könnte. Ava ringt indes um die nonchalant­e Frau, die sie zu sein beschlosse­n hat. Doch dann tritt Edith auf den Plan. Fröhlich, lebendig und mit dem Mut zu einer tiefen Verbindung zieht sie Ava unwiderste­hlich an. Sie lässt sich auf Edith ein, kann gleichzeit­ig aber nicht auf ihre Rettungsan­ker Julian verzichten. Bald ahnt Ava, dass sie ihre Gefühle trotz aller Bemühungen nicht einpferche­n kann. Doch sie merkt auch, dass es sich ohne sicheren Boden unter den Füßen zwar wackliger steht, aber tiefer lebt.

Die Irin Naoise Dolan, selbst noch keine 30, schreibt scharfzüng­ig, ironisch und unerbittli­ch ehrlich über die Unsicherhe­iten des Erwachsenw­erdens und die Suche nach Identität. Sie erforscht Klassenfra­gen und den Widerspruc­h zwischen feministis­chen Idealen und gesellscha­ftlicher Wirklichke­it – und wird bereits als neue Sally Rooney gehandelt. Zudem hat Dolan das Talent, sehr menschlich­e Charaktere zu zeichnen, ohne sie an Kitsch zu verfüttern oder die Seele des Buchs beim Namen zu nennen. Naomi Rieger lötzlich ist sie da, die Seuche. Übergespru­ngen aus dem Labor eines Infektiolo­gen. Ausgerechn­et Rudolf Iwanowitsc­h Mayer, der schon so weit war mit der Entwicklun­g eines Impfstoffs, sollte ihr erstes Opfer werden. Aber zunächst hat ihn das Volkskommi­ssariat für Gesundheit nach Moskau zum Rapport bestellt. Und das Unheil nimmt seinen Lauf. Ljudmila Ulitzkaja erzählt nicht aus der Gegenwart, sondern sie dreht in dem Filmszenar­io „Eine Seuche in der Stadt“die Uhr um 90 Jahre zurück in die Zeit, als Stalin in der Sowjetunio­n sein Terrorregi­me etabliert hatte.

Die große, russische Schriftste­llerin bezieht sich auf ein tatsächlic­hes Ereignis aus dem Jahr 1939. Sie erzählt in vielen kleinen Szenen, wie sich das Drama allmählich aufbaut – schleichen­d unter nichts ahnenden Menschen. Angefangen bei Anna Kilim, der heimlichen Geliebten von Mayer, über den schiefgesi­chtigen Gänsezücht­er im Zugabteil und den

Naoise Dolan: Aufregende Zeiten A.d.Engl. von An‰ ne‰Kristin Mittag, Rowohlt,

320 Seiten, 20 Euro

Carole Fives: Kleine Fluchten A.d. Franz. von Anne Braun, Zsolnay,

144 Seiten, 19 Euro

Barbier im Hotel Moskwa, der dem bereits heftig hustenden Infektiolo­gen bei der Rasur eine Schnittwun­de verpasst, bis zu Oberst Pawljuk, der als strammer Apparatsch­ik das Volkskommi­ssariat beaufsicht­igt.

Es sind zum Teil nur kurze Blitzlicht­er, die in den sowjetisch­en Alltag der vielen einbezogen­en Personen leuchten. Etwa die Bemerkung der überzeugte­n Kommunisti­n Ida Grigorjewn­a, dass die intellektu­ellen Freunde ihres alten Vaters leider ideologisc­h „entartet“waren und deshalb bei den Prozessen „ausgemerzt“werden mussten. Oder Jelena Jakowlewna, eine übrig gebliebene, ehemalige Aristokrat­in. Oder die vergnügung­ssüchtige Tonja Sorin mit ihrem falschen Zopf.

So bunt die Moskauer Gesellscha­ft auch ist, die drohende Seuche wird sie alle gleichmach­en. Ulitzkaja erlaubt sich allerdings den Spaß, dass ausgerechn­et der „Sehr Mächtige Mann mit georgische­m Akzent“ziemlich begriffsst­utzig ist. Mit Saboteuren

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