Stalin und die Pest Gift in den Köpfen und Körpern
Ljudmila Ulitzkaja
weiß er kurzen Prozess zu machen. Aber mit Pesterregern? In der Unterredung mit dem nervösen Gesundheitskommissar lautet sein Beschluss: „Gut! Wir helfen. Bei den Listen und auch bei der Liquidierung.“Seine Leute wissen schon, wie man verdächtige Personen einsammelt und isoliert …
Die „schwarzen Raben“schwärmen aus. An vielen Wohnungstüren schrillt zu nächtlicher Stunde die Glocke. In der Stalinzeit wusste man, was das zu bedeuten hat: sofort mitkommen, ohne irgendwelche Erklärungen. Das weitere Schicksal? Ungewiss. Vielleicht „zehn Jahre ohne Recht auf Briefwechsel“? Das Codewort für die Todesstrafe.
Längst haben Angst und Opportunismus die Köpfe vergiftet. Jederzeit kann es auch dich treffen. Der NKWD wütet in der Bevölkerung mindestens so geräuschlos und unberechenbar wie die Pest. Erklärungen werden nicht gegeben. Im Gegenteil: Vorfälle werden offiziell vertuscht und beschwiegen. Stumpf gewöhnen sich die Leute daran, dass aus ihrer Mitte ab und an jemand verschwindet. Am Ende dröhnt die Marschmusik mit voller Kraft. Und Bezirksarzt Kossel beruhigt seine Frau: „Dina, es war die Pest. Nur die Pest!“Geschenkt, dass der Arzt Alexej Iwanowitsch Shurkin im Augenblick des glimpflichen Ausgangs der Seuche abgeholt wird …
Ljudmila Ulitzkaja spart nicht mit Sarkasmus in ihrem Szenario. Ausgerechnet der gefürchtete stalinistische Geheimdienst verhindert die Ausbreitung der Pest mit seinen effizienten Maßnahmen, Menschen aus dem Verkehr zu ziehen. Bereits 1978 schrieb sie dieses Filmskript als eine Parabel, dass menschengemachte Terror-Epidemien allemal das schlimmere Unglück als eine Seuche sind. Die Corona-Pandemie verleiht dem Text brisante Aktualität. Wie stark wird die Seuche unser Miteinander verändern? Die Frage ist offen. Alois Knoller