Wie lange hält die Rekordjagd an der Börse?
Die Hoffnung auf ein Ende der Corona-Pandemie und beherzte staatliche Stützungsmaßnahmen machen die Anleger optimistisch. Doch die Luft wird dünner, sagt Commerzbank-Experte Chris-Oliver Schickentanz
Herr Schickentanz, der Dax schreibt derzeit Rekorde. Wie ist dies in der Wirtschaftskrise zu erklären? ChrisOliver Schickentanz: Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zum einen antizipieren die Börsen die wirtschaftliche Erholung. Die Börsen spiegeln nicht den Status quo wider, sondern die wirtschaftliche Lage in sechs bis zwölf Monaten. Dann könnte das Thema Covid-19 ein großes Stück weit bezwungen sein, sodass eine deutliche konjunkturelle Erholung einsetzen kann. Die Lockdown-Maßnahmen werden dann entfallen. Die Bürger haben zudem massiv gespart, da sie in der Krise weniger Möglichkeiten hatten, Geld auszugeben. Wenn zum Beispiel Restaurants oder Läden wieder öffnen oder Urlaub möglich sein wird, kann dieses Geld in die Konjunktur fließen. Dazu kommt ein Konzert an staatlichen Konjunkturprogrammen in vielen Ländern weltweit und eine aggressive staatliche Notenbankpolitik mit sehr niedrigen Zinsen.
Wie lange kann die Rekordjagd an den Börsen noch anhalten? Schickentanz: Wir gehen davon aus, dass wir im zweiten Quartal den Höhepunkt der Euphorie an den Börsen erleben werden. Es kann noch einige Wochen oder Monate mit steigenden Kursen weitergehen. Dann aber ist Vorsicht angebracht. Die Börsen reagieren derzeit auf den zunehmenden konjunkturellen Optimismus. Dieser spiegelt sich in bestimmten Indizes wider, wie zum Beispiel einem Einkaufsmanagerindex oder dem Ifo-Index in Deutschland. Die Indikatoren markieren gerade zum Teil historische Höchststände. Dies ist für uns immer ein Signal, vorsichtig zu sein. Sobald die Anleger merken, dass die Perspektiven nicht noch besser werden, schalten die Börsen meist in den Rückwärtsgang.
Ist es nicht sowieso mutig, dass Börsen mitten in einer Wirtschaftskrise Rekorde feiern? Gaststätten oder Händler in Deutschland leiden ja massiv, immer wieder wird vor einer Insolvenzwelle gewarnt.
Schickentanz: Nicht alle Werte liegen ja auf einem Rekordhoch. Die Börsen differenzieren. Während einige Konzerne über ihrem Vorkrisenniveau notieren, tun sich andere schwer. Deshalb denken wir auch nicht, dass die Entwicklung eine Blase ist, also eine komplette Übertreibung, die nichts mehr mit der Realwirtschaft zu tun hat. Der Dax ist zudem kein Abbild der deutschen Wirtschaft. Rund 80 Prozent der
Umsätze der Dax-Unternehmen werden außerhalb Deutschlands erwirtschaftet. Ein Brückenlockdown in Deutschland kann deshalb für einen Dax-Konzern weniger relevant sein als ein US-Konjunkturprogramm. Dieses fällt massiv aus. Der Internationale Währungsfonds erwartet zudem für dieses Jahr ein starkes Wachstum der Weltwirtschaft von 6 Prozent.
Auch die niedrigen Zinsen treiben viele Anleger an die Börse. Ist die Party zu Ende, sobald die Zinsen steigen?
Schickentanz: Falls die Zinsen eines Tages nachhaltig steigen, wäre dies ein heftiger Gegenwind für Aktien. Die Frage ist, wann dies der Fall sein wird? Wir rechnen nicht damit, dass die Europäische Zentralbank vor 2025 an der Zinsschraube dreht. Davon heute die Geldanlage abhängig zu machen, halte ich für einen Fehler. Wir werden in Europa noch vier bis fünf Jahre mit dem Niedrigzins kalkulieren müssen.
Was raten Sie dem Anleger bei diesen Rekordständen? Kaufen oder verkaufen? Schickentanz: Das hängt von der Situation an. Wer als Anleger einen Fondssparplan laufen hat, um für das Alter vorzusorgen oder für eine größere Anschaffung Rücklagen aufzubauen, sollte diesen weiterlaufen lassen. Wer bereits stark in Aktien investiert hat, dem raten wir, einige Kursgewinne mitzunehmen. Nur realisierte Kursgewinne sind am Ende Gewinne. Dafür bieten sich konjunktursensible Werte wie Autoaktien oder der Maschinenbau an, die zuletzt stark vom Konjunkturoptimismus profitiert haben. Bei Technologie- oder Gesundheitswerten kann man längerfristig dabeibleiben. Wer dagegen noch überhaupt keine Aktien besitzt, dem kann ich sagen, dass dies weder ein besonders guter noch ein besonders schlechter Zeitpunkt ist, einzusteigen. Keine Aktien oder Fonds zu besitzen, ist für die Vermögensbildung suboptimal, das zeigt sich gerade. Falls die Kurse also etwas nachgeben, sollte man den Mut haben, zuzugreifen, und damit beginnen, erste Bestände aufzubauen.
Über neue Trading-Apps haben gerade junge Leute zuletzt den Einstieg an die Börse gefunden. Was halten Sie davon? Schickentanz: Ich habe hier eine zweigeteilte Sicht: Es ist schön, wenn man sich traut, in Wertpapiere zu investieren und Erfahrungen zu sammeln. Sich aber eine Aktie herauszugreifen, die vielleicht in einem Forum heiß empfohlen wird, ist eine riskante Investmentstrategie. Das hat sich bereits rund um die Jahrtausendwende zu Zeiten des Neuen Marktes oder bei der T-Aktie gezeigt. Ein Einzelwert kann immer abstürzen. Dagegen schützt eine breite Streuung.
Interview: Michael Kerler
ChrisOliver Schicken tanz, 45, ist seit Juli 2011 Chefanlagestratege der Commerzbank. Er hat Psychologie studiert.