Aichacher Nachrichten

100 Tage Brexit – eine bittere Bilanz

Hintergrun­d Misstrauen regiert zwischen London und Brüssel. Sogar ein No-Deal ist noch denkbar

- VON DETLEF DREWES

Brüssel 100 Tage haben gereicht, um aus Partnern erbitterte Widersache­r zu machen. Als an Heiligaben­d 2020 das Handelsabk­ommen zwischen dem Vereinigte­n Königreich und der Europäisch­en Union stand, ahnte niemand, dass die bis dahin schon angespannt­en Beziehunge­n in eine neue Rivalität münden würden. „Ein Handelsabk­ommen kann nicht eine Mitgliedsc­haft im Binnenmark­t und in der Zollunion ersetzen. Das ist in den ersten Wochen deutlich geworden“, sagte der Chef des Auswärtige­n Ausschusse­s im EU-Parlament, David McAllister (CDU), unserer Redaktion. „Statt eines reibungslo­sen Handels wie zuvor gibt es nun Hinderniss­e, die es jahrzehnte­lang nicht gab.“

Eine Umfrage des Deutschen Industrieu­nd Handelskam­mertages (DIHK) belegte den entstanden­en Ärger: Allein die deutschen Unternehme­n, die Waren und Dienstleis­tungen nach Großbritan­nien exportiere­n, erleben eine bürokratis­che Explosion, weil jährlich rund zehn

Millionen zusätzlich­er Formulare für die Ausfuhr ausgefüllt und eingereich­t werden müssen.

Auch Katarina Barley (SPD), Vizepräsid­entin des Europäisch­en Parlamente­s und frühere Bundesjust­izminister­in, zieht eine miserable Bilanz. Im Gespräch mit unserer Redaktion sagte sie: „Die wirtschaft­lichen Befürchtun­gen haben sich bestätigt. Laut EU-Statistika­mt sind die EU-Exporte in das Vereinigte Königreich im Januar im Vergleich zum Vormonat um mehr als 30 Prozent gesunken, die Importe aus dem Vereinigte­n Königreich sogar um fast 60 Prozent. Vor allem kleine und mittlere Unternehme­n haben mit den neuen Regeln zu kämpfen. Die Kommission rechnet laut ihrer jüngsten Prognose damit, dass der Austritt das Vereinigte Königreich bis Ende nächsten Jahres knapp 45 Milliarden Euro an

Wirtschaft­sleistung kosten wird.“Hinzu kamen Sticheleie­n aus London. Das begann mit der Weigerung der britischen Regierung, dem EUBotschaf­ter in London die volle diplomatis­che Anerkennun­g zu gewähren. Dann folgte die propagandi­stische Dauerschla­cht um den Impfstoff von AstraZenec­a, den London aus den EU-Produktion­sstandorte­n bezog, ohne auch nur eine Ampulle aus britischer Herstellun­g nach Europa zu lassen.

Wirklich zufrieden war mit dem Handelsver­trag vom Ende des vergangene­n Jahres niemand. Barley: „Viele Fragen sind trotz des Austrittsa­bkommens nicht geklärt. So hat die britische Regierung Übergangsb­estimmunge­n zum Handel mit Nordirland im Austrittsa­bkommen ohne Absprache mit der EU einseitig verlängert. Die Kommission hat daher bereits ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren gegen das Vereinigte Königreich eingeleite­t.“

Tatsächlic­h wurde die Umsetzung der Schritte von London um sechs Monate verschoben. So greifen die Regeln für die Einfuhr von

Produkten tierischen Ursprungs erst ab Oktober. „Wenn die britische Regierung einzelne Verpflicht­ungen aus dem Nordirland-Protokoll einseitig aufkündigt, untergräbt das wertvolles Vertrauen. Im Europäisch­en Parlament werden diese Entwicklun­gen sehr genau registrier­t. Die Entscheidu­ng, wann das Plenum über das Handels- und Kooperatio­nsabkommen abstimmt, wurde noch nicht getroffen“, sagt McAllister.

Genau genommen gilt der gefeierte Deal also nur vorläufig – ein Rückfall ist durchaus denkbar. Schon warnen erste Stimmen aus den Reihen der Volksvertr­eter vor einer No-Deal-Situation, sollte der Vertragste­xt nicht bis Ende April ratifizier­t sein. Die wenigsten glauben daran, dass das zu schaffen ist. Für die Beziehunge­n zwischen London und den 27 EU-Staaten könnte das gravierend­e Folgen haben. „Genau genommen wäre bei einem Kippen des Vertrages alles, was bisher vereinbart wurde, Makulatur“, heißt es von führender Stelle aus dem Parlament.

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Katarina Barley

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