„Es besteht das Bedürfnis zu beten“
CoronaGespräche Pfarrer Helmut Haug und Gemeinderatsvorsitzende Renate Braun erleben in der Augsburger Moritzkirche jetzt schon, wie Christsein in Zukunft aussehen könnte. Das Selbstverständliche fällt weg. Es kommt mehr darauf an, die seelischen Wünsche
war heuer ganz anders. Ganz anders als letztes Jahr im harten Lockdown und anders als noch ohne Corona. Waren Sie, Herr Pfarrer Haug, erleichtert, die Gottesdienste wieder in Präsenz feiern zu dürfen?
Helmut Haug: Gar keine Frage, natürlich. Es war schon ein Schock, als die Nachricht herauskam, die Ostergottesdienste sollten heuer wieder nicht in Präsenz stattfinden. Es wäre eine herbe Enttäuschung für alle gewesen. Aber es hat sich dann doch schnell wieder alles verändert und in Wohlgefallen aufgelöst. Wir konnten zumindest so feiern wie geplant. Das Verrückte ist, dass das letzte normale Ostern gedanklich so weit weg ist, dass es schon schwerfällt, in die Vergangenheit zurückzudenken.
Renate Braun: Man hat ein anderes Gefühl für eine volle Kirche entwickelt und dafür, was es bedeutet, dass Menschen in Strömen kommen, eng gedrängt in den Bänken sitzen, dass Menschen sogar stehen. Fast unwirklich erscheint es mir heute. Man merkt den Menschen an, dass ihnen wirklich guttut, in die Kirche kommen zu können.
Haug: Die Atmosphäre war unglaublich gesammelt und konzentriert. Im Grunde kann man’s mit Weihnachten vergleichen, da war’s ja ähnlich von der Situation her. Aber es war zu Ostern geistlich intensiver.
Weihnachten war ja das Erstaunliche, dass die Christmesse, von der es hieß, die sei ausgebucht, dann doch nicht voll war. Woher kam diese Zurückhaltung? Haug: Die Nachrichten zwei, drei Tage vor Weihnachten, dass die Inzidenzen so hoch seien und es unter Menschen gefährlich sein könnte, haben sicher eine Rolle gespielt. Das haben wir jetzt vor Ostern interessanterweise nicht beobachten können. Der Gründonnerstag war gut besucht und auch der Karfreitag. In der Osternacht wären tatsächlich doch ein paar Plätze frei gewesen. Braun: Es ist natürlich ein Aufwand, keine Frage, ein Anmeldeprozedere zu entwickeln, wo keiner sich missachtet fühlt und spürt, er kommt auch irgendwo zum Zug. In den meisten Fällen sind die Leute verständnisvoll, dass wir sie nicht registrieren, um jemand zu ärgern, sondern weil die Situation außergewöhnlich ist. Ich erlebe, dass die Leute sogar sagen: Wenn’s fei knapp wird, dann geh ich wieder und überlasse meinen Platz einem anderen. An Ostern habe ich allerdings gemerkt: Diese Feiertage sind emotional stark belegt. Es ist den Leuten wichtig, die Gottesdienste in der Kirche mitzuerleben.
Tut es dem Pfarrer weh, in eine Kirche zu blicken, in der Menschen unter ihren Masken weit auseinander sitzen?
Haug: Es ist erstaunlich, wie schnell man sich an alles gewöhnt. Dieser Blick schreckt mich gar nicht mehr so sehr wie am Anfang. Was mich wirklich geschmerzt hat: dass wir nicht singen durften. Mich hat es so gedrängt, bei den Osterliedern mitzusingen. Gerade in einer Gemeinde wie St. Moritz, wo die Leute immer aus vollem Herzen gesungen haben.
Braun: Mir ist es genauso ergangen. An Weihnachten ging es noch irgendwie, aber jetzt an Ostern ist es mir richtig schwergefallen, auf das Singen zu verzichten. Normalerweise singe ich im Chor mit. Dabei nimmt man ganz anders am Gottesdienst teil und kann mit Herzblut mitwirken. Für die Chorgemeinschaft ist es sehr schwer, zumal jegliche Perspektive fehlt. Die Zwangspause zieht sich schon lange hin, und man hat keine Idee, wann gemeinsames Singen wieder möglich ist.
Haug: Außenstehende nehmen vielleicht nur die Verschönerung wahr, aber Singen ist ja nicht nur ein liturgischer Dienst. Singen hat auch mit der psychischen Hygiene zu tun. Die Gesellschaft verlöre sehr viel, wenn die Chöre verschwinden würden.
Braun: Im Chor stellt man sich aufeinander ein, studiert etwas gemeinsam ein und kann dann den Menschen im Gottesdienst etwas geben. Das berührt auch die Zuhörer auf ganz positive Weise.
Seelsorge in Zeiten der Pandemie ist um einiges schwieriger geworden. WoOstern nach verlangt denn zurzeit die Seele? Zeigt sich eine geistige Verödung? Haug: Ich bin ein bisschen hin- und hergerissen. Ich höre, dass Menschen entdecken: Ich brauche das alles gar nicht, es geht auch so. Aber, ganz ehrlich: Ich kann nicht beurteilen, ob es wirklich so ist. Ich mache mir viele Gedanken, wie systemrelevant – ein schreckliches Wort! – wir sind. Manche Seelsorger verfallen in der Pandemie in einen geistlichen Aktivismus, und es ist unfassbar, was alles erfunden und ersonnen wird! Ich selbst frage mich: Wie bleibt die Kirche am Lebendigen? Wir sind ja kein Verschönerungsverein oder was ganz Nettes, was man so dazugibt, sondern die Botschaft des Evangeliums ist es ja, den Menschen zu helfen, dass sie lebendig bleiben und sich nicht abschneiden von dem, was Menschsein ausmacht. Im Evangelium gibt es ganz viele Gegensätze: dass die leben, die eigentlich tot sind, und umgekehrt. Braun: Ich merke, dass es den Leuten in dieser Pandemie nicht allein darum geht, gesund zu bleiben und ihr Leben einigermaßen zu managen. Unsere Kirche war in diesen Monaten immer offen, und wir haben gesehen, es sind immer Menschen gekommen. Es besteht das Bedürfnis zu beten. Wir bieten ganz viele Anregungen und Impulse, was Menschen mitnehmen können. Das wird supergut angenommen. Und beim Abhaken an der Kirchentür kommt man ganz anders ins Gespräch. Das ist das Positive. Man lernt viele Leute in einer neuen Weise kennen, wie es bisher nicht möglich war. Das Bedürfnis nach Seelsorge, wie auch immer sie aussehen kann und soll, ist einfach groß. Haug: Es geht auch um das Erheben der Seele, und wenn es nur ein kleiner Moment ist, mal in eine andere Perspektive einzutauchen. Da ist unser weiter, weißer Kirchenraum wirklich ein Schatz. Gerade wenn sonst nichts an Pastoral möglich ist. Unser Architekt sagte: Der Pfarrer predigt einmal in der Woche, aber der Kirchenraum predigt ständig. Ich hätte nicht gedacht, dass das so wahr werden würde. Der Raum ist zurzeit unser Haupt-Seelsorgeangebot. Dort können sich die Menschen einfach zurückziehen, dasitzen, den
Raum und seine spirituelle Botschaft aufsaugen. Jetzt, wo die Figur des Christus Salvator im Chorraum wieder sichtbar und der große Olivenbaum wieder da ist.
Könnten das Spuren sein für eine Pastoral der Zukunft in der Stadt? Haug: Auch wenn kirchliche Strukturen am Verschwinden sind und sich manches verändern wird, glaube ich, dass diese uralten Räume für die Menschen anziehender werden. Klar wird der Massentourismus so nicht mehr bleiben, wie er war. Trotzdem werden die Menschen, wo immer sie hinfahren, nach wie vor von den Kirchen angezogen werden.
Im Moment zeigen sich Lücken. Werden die Leute wieder zurückkommen? Braun: Ich denke ja. Es sind vielleicht nicht dieselben Leute. Nach der Neugestaltung der Moritzkirche haben wir auch schon erlebt, dass viele Menschen wieder gekommen sind, und zum Teil waren es andere Leute. Ich merke, dass viele Leute mit uns per E-Mail Kontakt halten und sagen: Im Moment traue ich mich nicht, aber ich komme wieder. Haug: Ich kenne einige, die sagen: Die Art und Weise, jetzt Gottesdienst zu feiern – ich kann das nicht. Für mich ist der Punkt, wie authentisch der Gottesdienst gefeiert wird. Wenn wir nicht meinen, wir müssten ein Spektakel bieten, wird dies immer die Menschen anziehen. Authentische Liturgie ist ein Zusammenspiel von vielem – der Musik, der Kunst, des liturgischen Dienstes. Wenn die Menschen spüren, das harmoniert und ich darf dabei sein. Oft höre ich: Hier wird man nicht komisch angeschaut, egal was man mitbringt und wen man mitbringt. Braun: Das ist der Vorteil einer Personalgemeinde, dass nicht immer zu hundert Prozent dieselben Leute am selben Platz in der Kirche sitzen. Hier kann ich einfach mal dazustoßen, einfach vorbeikommen.
Es ist alles so ruhig geworden. Vermissen Sie Feste, Feiern, Empfänge? Haug: Ich entdecke bei mir selber: Es ist immer schmerzlich, wenn ich mich nach den Gottesdiensten gleich verdrücke, um Gruppenbildung zu vermeiden. Das ist unnatürlich. Braun: Gemeinschaft gehört einfach dazu, also dass Leute nach dem Gottesdienst in der Gruppe zusammenstehen. Ich sehe in der Pandemie die Gefahr, dass man so vereinzelt wird. Sich zu treffen heißt in dieser Situation, sich miteinander auszutauschen, den eigenen Horizont zu weiten, sich Trost zu spenden. Natürlich fehlen die Feste. Sie geben die Gelegenheit, dass Leute, die noch nie hier waren, mal reinschnuppern. Gastfreundschaft zu üben, das fehlt an allen Ecken und Enden.
Vermutlich wird nichts mehr so sein wie vor der Pandemie. Wie malen Sie sich die Kirche der Zukunft aus? Haug: Kirche kommuniziert immer mit der Gesellschaft. Ich gehe durch die Stadt und erschrecke, wenn ich Straßen sehe, die durch Leerstände jetzt schon abgestorben sind. Wie wird das erst nach der Pandemie sein? Das hat auch Auswirkungen auf unser kirchliches Leben. In St. Moritz sind wir es gewohnt, dass um uns herum viel Leben ist. Ob es tatsächlich dazu kommt, dass wir eine kleine Schar werden und die Volkskirche endgültig am Ende ist? Ich nehme wahr, wie Kirche in Kabarett und Comedy gesehen wird. Das ist zum Teil schmerzlich. Wir Priester, pastoralen Mitarbeiter und Ehrenamtlichen werden gerade zermahlen im Spannungsfeld der unterschiedlichen Anschauungen. Wir versuchen ständig, den Leuten klarzumachen, dass Kirche noch was anderes ist als das, was man gemeinhin hört. Braun: Die absolute Selbstverständlichkeit, dass Kirche zum Leben dazugehört, ist in der Pandemie endgültig verloren gegangen. Das ist zum einen schmerzlich, zum anderen auch die Chance zu überlegen: Wie kann die Kirche den Menschen das geben, was sie brauchen? Aber was brauchen sie, was sind ihre Bedürfnisse? Das gilt es herauszufinden. Moderation: Alois Knoller