Klangbaden mit den Philharmonikern
Virtual Reality Nach Oper, Schauspiel und Ballett gibt es nun auch eine Orchesterproduktion des Staatstheaters mit 360°-Effekt. Jetzt darf jeder den Musikern auf die Finger gucken
Dabei sein ist alles. Den Spruch kennen wir. Jetzt stellt sich raus: Mittendrin sein ist besser.
Möglich macht’s die VR-Brille. Gestern galt im Sinfoniekonzert die säuberliche Trennung zwischen Dirigent und Orchester oben, Publikum unten. Die Musiker durften ihren Arbeitsplatz nicht verlassen, sie wurden auf dem Podium gebraucht; die Hörer unten konnten nicht einfach während des Konzerts die Bühne erklimmen, durch die Instrumentalisten-Reihen wandern, nach dem Rechten gucken ...
Aber das geht jetzt eben. Der Wunschtraum des Klangbadens mitten im Orchester, der Wunschtraum, von Musikern umgeben zu sein und ihnen auf die Finger zu schauen – wenn auch nicht zu klopfen –, das funktioniert nun.
Nach dem Einsatz in der Oper (Glucks „Orfeo“2020), nach dem Einsatz in Schauspiel und Ballett, gibt es nun auch eine Virtual-Reality-Produktion der vierten Sparte des Staatstheaters, nämlich der Augsburger Philharmoniker. Sie führen Modest Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“auf – und mittels der VR-Brille (sowie Kopfhörern), die überzuziehen und anzulegen sind, kann das Publikum mit 360-Grad-Perspektive zuschauen und zuhören, wie es so abgeht bei den Philharmonikern, wenn sie arbeiten.
Kann auf Position eins, das ist in etwa da, wo sonst der Klaviersolist hockt oder die Violinsolistin geigt, den Part der beiden Konzertmeisterinnen Jung-Eun Shin und Agnes Malich mal aus nächster Nähe verfolgen (links) oder die Schlagtechnik von Generalmusikdirektor Domonkos Héja rechts im Umwenden. (Nur ihm in den Arm fallen, das geht nicht!)
Kann auf Position zwei zwischen Hörnern und Trompeten mit Blick zum Pult mal kontrollieren, ob der GMD auch alle wichtigen Einsätze fürs Blech gibt – und andererseits prüfen, ob die erste Trompete ihre schwierige (Probespiel-)Stelle in „Samuel Goldenberg und Schmuyle“tadellos und unfehlbar absolviert.
Kann auf Position drei zuhören, wie die Fagotte kantabel die düstere Aura des alten Schlosses anstimmen, während die Kontrafagottistin auf ihren Einsatz noch wartet.
Kann auf Position vier zwischen den beiden Harfenistinnen und der Celesta-Spielerin auch deren Akustikund Hör-Perspektive „im Ernstfall“verfolgen – und sich umdrehen, um sich auch dem letzten Pult der Bratschen-Abteilung zu widmen. Wohlgemerkt: Auf allen vier Positionen kann der „Orchestergast“nach links, nach rechts, nach vorn und hinten sich drehen – und die Ohren aufsperren.
Dass für diese virtuelle Rundumerfahrung Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“in der Orchestrierung von Maurice Ravel bestens geeignet ist, liegt auf der Hand: ein Orchesterhit, eine nachvollziehbare farbige Programmmusik, ein „Ausstellungsbummel“, bei dem sich viele unterschiedliche Instrumente mit dankbaren Solopassagen präsentieren. Freilich wäre es hilfreich für alle Musikfreunde, läge der Brille noch ein Blatt Papier mit der Abfolge der Sätze bei – und entsprechenden Tipps, in welcher Position auf welches Instrument im Moment gerade besonders zu achten ist. Dann könnte auch der weniger erfahrene Gast stets zum rechten Zeitpunkt die Position wechseln, um im Mittelpunkt des musikalischen Geschehens zu stehen.
Augsburgs Philharmoniker jedenfalls nutzen die Gunst der Hightech-Stunde. Aufgezeichnet wurde das Virtual-Reality-Konzert im März 2021 unter Corona-Schutzauflagen in der Gersthofer Stadthalle; die Abstände zwischen den Instrumentalisten zeigen es.
Ganz nebenbei: Nicht nur die Philharmoniker-Fans, die auf Tuch- und Hautfühlung gehen wollen, haben hier ein wunderbares Ton- und Filmdokument aus nächster Nähe, auch GMD Domonkos
Héja kann jetzt mal detailliert betrachten, ob die Standard-Aufforderungen aller Orchestererzieher bei den entscheidenden Schlüsselstellen wirklich von den Musikern befolgt werden: „Schauen Sie aus Ihren Noten heraus, schauen Sie nach vorne, schauen Sie auf mich!“
Folgendes im Übrigen wäre die nächste Stufe: Dass alle die, die jetzt lauschend und guckend aufs Podium spazieren und Mäuschen spielen, auch dirigieren dürfen. Und dass das Orchester ihnen folgt. Eine Wahnsinnsvorstellung. Lassen wir das.
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VRBrille Im Augsburger Stadtgebiet kann die VRBrille beim Fahrradkurier boxbote bestellt werden (25 Euro kom plett), innerhalb Deutschlands über den bundesweiten Versandservice firstrow (19,90 Euro plus 13,90 Euro für Ver sand und Rücksendung). Genaueres un ter: https://staatstheateraugsburg.de/ vr_theater_at_home.
In der Berichterstattung über das Eisbrecher-Konzert im Gaswerk ist der Redaktion in Unterzeile und Bildunterschrift ein bedauerlicher Fehler unterlaufen: Der Sänger der Band heißt Alex Wesselsky, wie der Rezensent in seinem Text richtig geschrieben hat, und nicht Axel.