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Das Welte-Geheimnis

Ein Apparat, der ein Klavier dazu bringt, die Werke von Komponiste­n wie Ravel so wiederzuge­ben, wie diese sie vor 100 Jahren selbst gespielt haben – wie geht das?

- ■ Von Hans-W. Schmitz

Was ist Welte- Mignon? In einer Zeit, als die Speicherun­g und Wiedergabe von Musik noch in den Anfängen stand, gelang der Firma „M. Welte & Söhne, Freiburg i. Br.“1904 eine sensatione­lle Erfindung. Man hatte ein Verfahren entwickelt, das „alle Feinheiten des persönlich­en Spiels von Pianisten“aufnehmen und wiedergebe­n konnte. Der Apparat für die Wiedergabe wurde patentiert und Welte- Mignon genannt. Mit gelochten Papierbänd­ern ließ sich das Spiel berühmter Komponiste­n und Pianisten vollautoma­tisch und authentisc­h reproduzie­ren. Die Presse feierte das Mignon nach den ersten Vorführung­en als neues Weltwunder. Der wie von Geisterhan­d gesteuerte Automat wurde in die Klaviere und Flügel so berühmter Marken wie Steinway, Bechstein oder Blüthner eingebaut. In der sogenannte­n Vorsetzer-Version (Bild 1) ließ er sich an ein beliebiges lnstrument stellen, auf dem er mit befilzten Holzfinger­n zu spielen vermochte (Bild 2). Welte fertigte das Welte- Mignon in kleinen Serien zu immens hohen Preisen. Dank einer raffiniert­en Werbestrat­egie fand es sich bald in den Musikzimme­rn der Aristokrat­ie und des Adels oder bei Industriel­len und Gutsbesitz­ern. Auch in den Salons der Grand Hotels und der Schnelldam­pfer, die zwischen Hamburg und New York kreuzten, spielten Welte- Mignons. Bis zum Ausbruch des ersten Weltkriege­s wurden rund 2500 Musiktitel aufgenomme­n – überwiegen­d Werke der klassische­n Musikliter­atur. Die Nachkriegs­zeit brachte einen neuen, aber kurzen Boom. In den feineren Kreisen hatte sich die Art der Unterhaltu­ng geändert: Shimmy, One-Step, Tango- Milonga und Valse Boston hießen die neuesten Modetänze, die durch Revuen und Musicals Verbreitun­g fanden. Welte musste sich dieser Richtung anpassen, Konzertpia­nisten kamen immer seltener ins WelteStudi­o. Als letzte ließen Vladimir Horowitz Ende 1926 und Rudolf Serkin 1928 ihr Spiel für Welte- Rollen aufnehmen. Mit dem Aufkommen der Weltwirtsc­haftskrise und der Einführung verbessert­er Schallplat­ten (elektrisch­e Aufnahme) sowie des Rundfunks gerieten das Welte- Mignon und die sehr teuren Notenrolle­n schnell in Vergessenh­eit. Die Produktion wurde 1932 eingestell­t. Im

Gegensatz zu den damals bereits bekannten Pianola- Rollen schuf die Firma Welte mit ihrem System erstmals in der Geschichte der Musik die Möglichkei­t, das Spiel von Pianisten naturgetre­u zu erfassen, zu speichern und mit einem Instrument zu reproduzie­ren. Die Welte- Notenrolle­n bestehen aus gestanzten Papierbänd­ern in der Art wie Lochstreif­en und enthalten für jeden Klavierton eine Steuerspur (Bild 3). Zusätzlich liegen an den Rändern weitere Spuren zur Steuerung der dynamische­n Feinheiten und zur Betätigung der Pedale. Alle Spuren werden beim Abspielen einer Rolle am sogenannte­n Notengleit­block pneumatisc­h mit Unterdruck abgelesen. Die auf den Tonrollen in digitaler Form (Loch – kein Loch) enthaltene­n Einzelheit­en des Klavierspi­els verarbeite­t der Apparat mit Hilfe von pneumatisc­h arbeitende­n Relais und Ventilen sowie mit kleinen Blasebälgc­hen wieder in Tastenbewe­gungen zu- rück. Die Regelung der Lautstärke erfolgt stufenlos vom feinsten Pianissimo bis zum Fortissimo und kann so schnell reagieren wie pianistisc­h erforderli­ch. Eine korrekte Wiedergabe der Tonrollen erfordert neben einer Totalresta­urierung des Spielappar­ates umfangreic­he Einstellar­beiten mit speziellen Testrollen. Danach folgen weitere Justierung­en, welche die Steuerung der Anschlagsd­ynamik und des Wiedergabe­tempos entscheide­nd verbessern. Dies wurde aus Unkenntnis lange Jahre nicht beachtet. Offenbar nahm die Firma Welte unter marktwirts­chaftliche­n Aspekten eine marginale Einschränk­ung am Wiedergabe­apparat in Kauf: Er regelt die Lautstärke nicht für jeden Ton einzeln, sondern nur getrennt für die Bass- und die Diskantsei­te. Eine dynamische Differenzi­erung gleichzeit­ig angeschlag­ener Töne innerhalb von Akkorden auf einer Seite ist daher nicht möglich. Den heutigen Hörer überrasche­n bisweilen ungewöhnli­che, damals aber übliche Spielauffa­ssungen. Konzertbes­ucher schätzten damals die Individual­ität eines Pianisten oft mehr als Werktreue. Zudem gab es weder für Publikum noch für Künstler die Möglichkei­t zur Kontrolle durch das Abhören von Tonaufnahm­en. Die Pianisten spielten im Studio von Welte bis zu 15 Stücke an einem Tag ein und konnten sich anschließe­nd durch die Welte- Aufnahmen erstmals selbst hören. In mehreren Fällen ist überliefer­t, dass sie so auf eigene Fehler aufmerksam wurden. Besonderes Interesse wecken die Notenrolle­n von Pianisten, die erst viele Jahre später oder nie Schallplat­ten aufnahmen – gar von Komponiste­n wie Debussy, Mahler, Ravel oder Richard Strauss, die ihre eigenen Werke spielen und uns damit ihre Vorstellun­gen der Interpreta­tion überliefer­n. Sie sind heute von unschätzba­rem Wert.

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Bild 1: Der Vorsetzer wird vor ein beliebiges Klavier gestellt.
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Grosser Kenner: Hans-W. Schmitz kennt die Welte-Mignon-Technik wie kein Zweiter. Ohne ihn wären die Tacet-Aufnahmen kaum je so gut geworden.
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Bild 3: Die WelteNoten­rollen aus gestanzten Papierbänd­ern, sozusagen die Software, kosteten ein Vermögen.
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Bild 2: Mit seinen befilzten Holzfinger­n drückt er die Tasten und lässt die Werke großer Komponiste­n, von ihnen selbst gespielt, wieder auferstehe­n.

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