72 Minuten feinste Klassik ......
Zum 7. Mal hat CLASS, der Verband der unabhängigen Klassik-Labels und -Vertriebe, im Umfeld der Echo- beziehungsweise der Opus-Klassik-Verleihungen ein Benefizkonzert veranstaltet. Das audiophile Label MDG hat einen Auftritt mit Gewinnern des Opus Klassik 2019 mit 20 Künstlern auf 20 Tracks in unterschiedlichsten Besetzungen für diese AUDIO-CD aufgezeichnet.
Wer das Konzert am 12. Oktober im Joseph- JoachimKonzertsaal der Universität der Künste in Berlin besucht hat, erlebte ein mit klanglichen Überraschungen gespicktes Kammerkonzert, mit Künstlern, die durch den frisch gewonnenen Preis „Opus Klassik 2019“geadelt so manche musikalische Trouvaille servierten.
Überraschung ist ohnehin garantiert, wenn das Berolina Ensemble auftritt. Die jungen Berliner Virtuosen haben sich unbekannter Kammermusik in ungewöhnlichen Besetzungen verschrieben – und landeten mit der Entdeckung der Werke von Waldemar von Bausznern (1866–1931) einen Coup. Auf ewig nicht betretenen Dachböden der Nachfahren stöberten Klarinettistin Friederike Roth und Geiger David Gorol einen eingestaubten Schrank auf, darin ein prall gefüllter Koffer mit unbekannten handgeschriebenen Manuskripten des zuletzt in Berlin wirkenden Komponisten. Die Spannung dieses Momentes steht den beiden Musikarchäologen bei der Erzählung ins Gesicht geschrieben. Aufgewachsen in Siebenbürgen, interessierte sich Bausznern früh für die volkstümliche Musik seiner ungarischen
Umgebung. Unter neudeutschen Einflüssen und nach einer an der BrahmsTradition ausgerichteten Ausbildung in Berlin, entwickelte er einen höchst eigenwilligen Personalstil, der immer für Überraschungen gut ist – doch war er wohl zu aufregend für das konservative Berliner Publikum seiner Zeit, das sich von so viel künstlerischer Freiheit offensichtlich irritiert zeigte. Umso spannender für uns, die Hörer von heute, in diese Klängen einzutauchen und in ihnen zu schwelgen. Übrigens: Seinem Betreiben als Akademiesekretär sind unter anderem die Berufungen von Schönberg, Schreker und Hindemith an die Berliner Akademie zu verdanken.
1. WALDEMAR V. BAUSZNERN QUINTETT. ALLEGRO MODERATO Berolina Ensemble
Als Eingangsstück erklingt der 1. Satz des Quintetts für Klavier, Violine, Violoncello, Klarinette und Horn, eine aparte Klangmischung und ein mit mehr als 13 Minuten Spielzeit umfangreicher Satz „in ruhiger Bewegung“, dessen in variabler Stimmführung verarbeitetes Liedmotiv das Berolina Ensemble mit nahezu sinfonischer Dramatik präsentiert. Das originell besetzte Quintett lässt Wagnersche Harmonik anklingen und spielt virtuos mit den Kombinationsmöglichkeiten der ausgefallenen Besetzung.
2. VOLKSLIED STODUM TVÖ I TUNI Benedikt Kristjánsson
3. FRANZ SCHUBERT DU BIST DIE RUH OP. 59,3 Benedikt Kristjánsson, Alexander Schmalcz
4. FRANZ SCHUBERT ERSTARRUNG (AUS: WINTERREISE D 911) Benedikt Kristjánsson, Alexander Schmalcz
Einen anderen Blick auf unbeachtetes Terrain hat der Tenor Benedikt Kristjánsson, der allein die Bühne betritt: Er zaubert mit der Weise „Stodum tvö i tuni“(Zwei Stunden auf der Wiese) der Folklore seiner Heimat Island ein klingendes Denkmal. Es steht in einer archaischen Kirchentonart, deren Fremdartigkeit sich im ersten Dur- Klang von Schuberts „Du bist die Ruh“op. 53 wohltuend auflöst. Ein verblüffender Effekt klangästhetischer Annäherung, der Kristjánsson dank seiner in allen Stimmlagen klaren, ungekünstelten Diktion gelingt. Im Einklang mit Alexander Schmalcz am SteinwayFlügel lässt der Tenor auch im Lied „Er
starrung“aus Schuberts Winterreise das Publikum atemlos lauschen.
5.–10. BÉLA BARTÓK RUMÄNISCHE VOLKSTÄNZE
I. STABTANZ
II. RUNDTANZ
III. STAMPFTANZ
IV. TANZ AUS BUTSCHUM V. RUMÄNISCHE POLKA
VI. SCHNELLTANZ Konstantin Reinfeld, Benyamin Nuss
Vielleicht kann nur ein studierter JazzMusiker es wagen, Bela Bartóks „Rumänische Volkstänze“auf die Mundharmonika zu übertragen. Irgendwann hat Konstantin Reinfeld bemerkt, dass dieses Instrument auch außerhalb berühmter Filmmelodien zu faszinieren weiß. Sein gleichgesinnter Klavierpartner Benyamin Nuss begab sich mit ihm dann auf eine „Expedition ins Unerhörte“. Virtuose Kompetenz ebnete den Weg des Duos, und die sonst von schwarzpolierten Flügelklängen geschliffene Folklore bekommt hier eine neuartige, von glasklaren Tönen gefärbte und von Atemimpulsen und Fingerbewegungen vibrierend strukturierte Oberfläche. Die Musiker beschwören mühelos Dorfbilder mit Tanzdielen herauf, auf denen unbekümmerte Kapellen aufspielen.
11. J. S. BACH/MAX REGER BRANDENBURGISCHES KONZERT NR. 3 BWV 1048. ALLEGRO CON SPIRITO Klavierduo Trenkner-Speidel
12. J. S. BACH/MAX REGER BRANDENBURGISCHES KONZERT NR. 3 BWV 1048. ALLEGRO Klavierduo Trenkner-Speidel
Die Pianistinnen Evelinde Trenkner und Sontraud Speidel konzertieren seit Jahrzehnten jeweils solistisch und als Klavierduo Trenkner-Speidel. Beide Grandes
Dames betreuen nach wie vor eigene Solistenklassen an den Hochschulen in Lübeck und Karlsruhe und haben eine exquisite Diskographie vorzuweisen. Hier sind vor allem lange unbeachtete zeitgenössische Transkriptionen des großsinfonischen Orchesterrepertoires enthalten, die zu Zeiten, als die Tonaufnahme noch in den Kinderschuhen steckte, Dirigenten und Konzertveranstaltern nur in einer Version für Klavier zu vier Händen erstmals vorgestellt wurden. Das Spannende an diesen Fassungen ist nicht nur die historisch Rezeption etwa der Sinfonien von Gustav Mahler, Antonin Dvorák oder Anton Bruckner, sondern vor allem die unmittelbare Darstellung der inneren Strukturen der Kompositionen. Das gelingt natürlich nur, wenn klar erkennbar wird, wie sich einzelne Orchesterstimmen innerhalb der Übertragung gegenüber anderen absetzen, indem sie ein anderes Klangkolorit bekommen. Und dann gibt es noch eine praktische Herausforderung: Auf den 88 Tasten und dem beengten Platz müssen insgesamt 20 Finger so koordiniert werden, dass sie sich zu keiner Zeit gegenseitig verhakeln … Mit seinem wahrlich hervorragenden Zusammenspiel und fein abgeklärter Spielweise erweist das Klavierduo TrenknerSpeidel Max Reger seine Reverenz, indem sie das 3. Brandenburgische Konzert von Johann Sebastian Bach, das Reger für Pianoforte eingerichtet hat, mit Schwung und Finesse aufführen. >>
13. KAMMERGESÄNGE WALDEMAR V. BAUSZNERN 8. DERRIÈRE CHEZ MON PÈRE Maria Bengtsson, Berolina Ensemble
14. WALDEMAR V. BAUSZNERN KAMMERGESÄNGE 7. DER STOLZEN SCHÖNHEIT Maria Bengtsson, Berolina Ensemble
15. WALDEMAR V. BAUSZNERN KAMMERGESÄNGE 5. SE TU M’AMI Maria Bengtsson, Berolina Ensemble
16. WALDEMAR V. BAUSZNERN KAMMERGESÄNGE 4. HIER AU SOIR, J’AI TANT DANSÉ Maria Bengtsson, Berolina Ensemble
Stilistisch lässt sich der Einzelgänger von Bausznern kaum festlegen. Von wenigen atonalen Sonatinen abgesehen, ist er mäßig modern, spätromantische Einflüsse inklusive. Dies bestätigen die vier der „Acht Kammergesänge“für Sopran, Streichquartett, Flöte und Klarinette. Eigentlich sind es Volkslieder aus Frankreich, Italien und Deutschland, mit Liebe zum Detail vertont und polyphon arrangiert, deren Pastellcharme Maria Bengtsson mit feinem Sinn für die traditionellen Melodien gestaltet. Sie atmen eine Leichtigkeit, die den volksliedhaften Charakter der alten Weisen unterstreicht und den Zyklus in die klangliche Nähe der Impressionisten rückt. Während des Konzerts begann draußen plötzlich eine Freiluftveranstaltung mit Blaskapelle und dem üblichen Humtata. Bengtsson und das Berolina Ensemble trotzten charmant dem entfernten Spektakel, das sich technisch leider nicht gänzlich aus der Konzertaufnahme entfernen ließ. Wer sich dem ungestörten Musikgenuss hingeben möchte, sei auf die prämierte SACD- Einspielung verwiesen, die eine makellose Wiedergabe gestattet.
17. ANDRZEJ KORZYNSKI CZLOWIEK Z ZELAZA Konstantin Reinfeld, Benyamin Nuss
Und da ist er wieder: Der vibrierende Sound der durchschlagenden Mundharmonika- Metallzungen passt vorzüglich zu „Człwoiek z zeleza“(Der Mann aus Eisen) des polnischen Komponisten Andrzej Korzynski, der für die Musik zu den Filmen von Andrzej Wajda verantwortlich war. Den Noir- Stil verstärkt Konstantin Reinfeld hinreißend mit von Blues und Jazz beeinflussten „dirty tones“.
18. JACOB DO BANDOLIM NOITES CARIOCAS Konstantin Reinfeld, Benyamin Nuss
Jacob Do Bandolim (1918–1969) war ein brasilianischer Musikforscher und Komponist, der die Mandoline und die Mundharmonika solistisch etablierte. Seine „Noites Cariocas“(Nachtleben) sind eine Verbindung von Polka und Walzer mit von afrikanischen Sklaven importierten Tänzen. Das steigert sich zur rhythmischen Fiesta und bietet beiden Künstlern Gelegenheit zu frivolen Improvisationen.
19. JACQUES LOUSSIER CUBZAC Thomas Knapp, Michael Posch
Klassischer Klavierstil, wie er auf Schallplatten dokumentiert ist, habe ihm als junger Mann wegen mangelnder kreativer Freiheit missfallen, erklärte der österreichische Pianist Thomas Knapp beim Interview mit Moderator Axel Brüggemann. Nachdem er jedoch Play BachAufnahmen von Jacques Loussier (1934– 2019) gehört hatte, entschied er sich dazu, sich an diesem Vorbild zu orientieren. Erst recht, als sie sich persönlich kennengelernt hatten. Für alle Hörer, die sich bisher beim Namen Loussier an Bach erinnert fühlen, mag dieser Track eine Überraschung sein. Dass er auch ganz andere Jazzpartien komponiert hat, zeigen der Pianist Thomas Knapp und sein Schlagzeugpartner Michael Posch mit dem Werk „Cubzac“(ein Ort in der Nahe von Bordeaux). Es ist komplett in Noten aufgeschrieben, stellt dennoch den Interpreten die jazztypischen freien Improvisationsräume (inklusive einfühlsamem Schlagzeugsolo) zur Verfügung, die jeden Konzertauftritt und jedes Zuhören zu einem spannenden Erlebnis machen.
20. FRIEDRICH GULDA FÜR PAUL Thomas Knapp, Michael Posch
1975 begegnete Thomas Knapp einem weiteren Exzentriker der Klassikszene: dem großen Pianisten und Jazzmusiker Friedrich Gulda (1930–2000). Er hatte bereits seine Werke geübt und beeindruckte Gulda mit seiner Spielweise so sehr, dass er von ihm Unterricht erhielt. Das Stück „Für Paul“ist für Guldas Sohn. Es zitiert klassische Motive, die über diskrete Rockbeats verschoben und durch kurze Extempores verfremdet werden. Dennoch steuert das Arrangement periodisch auf Momente einstudierter Interaktionen, in denen rhythmische Akzente gebündelt werden.