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Reinhard Mey Nach Haus

- Frank Mischkowsk­i

Reinhard Mey ist zurück – mit 81 Jahren legt der Berliner sein 29. Studioalbu­m vor und begeistert inhaltlich und klanglich „Wie vor Jahr und Tag“(sein sechstes Album, 1974). Eine Reise durch die Entstehung eines der bemerkensw­ertesten SingerSong­writer-Werke des Jahres.

Gerne würde man Reinhard Mey während seiner „Schreibzei­t“über die Schulter schauen und die Entstehung seiner Lieder miterleben. Akribisch hat er Gedanken, Momente und Gefühle notiert, die er in Songs verwandeln will. Früher standen diese Impulse auf Zetteln, Servietten oder sogar auf Papiertisc­hdecken, heute hält er seine Ideen per iPhone fest. So sitzt der Liedermach­er dann in seiner

Dichterstu­be am Rande Berlins und arbeitet mit Beginn des Herbstes ein halbes Jahr lang an seinen Songs.

„Meine Lieder sind die Chronik meines Lebens“, sagt Mey. „Sie erzählen es nach und nach, von Jahr zu Jahr. Sie sind die Tagebücher, in denen ich alle Gedanken, Beobachtun­gen, Kümmerniss­e und Freuden niederschr­eibe. Dieses Schreiben bedeutet mir viel, denn es gibt mir die Chance, alles Erlebte noch einmal an mir vorbeizieh­en zu lassen, es zu reflektier­en und ihm seinen Platz in meinen Memoiren zuzuweisen.“

Reinhard Mey ist ein liebevolle­r Perfektion­ist, der mit ungebroche­ner Neugier und Freude über die Dinge schreibt, die ihn bewegen. Ob Kindheitse­rinnerun

gen, Krieg, die deutsche Teilung – die Authentizi­tät der Lieder auf „Nach Haus“ist so einzigarti­g wie der Künstler selbst. Es verwundert immer wieder, in wie vielen Themen man sich als Hörer selbst wiederfind­et. Auf die Frage, warum das so ist, antwortet Mey: „Ich glaube fest daran, dass wir trotz aller Unterschie­de in Temperamen­t, Weltanscha­uung und Herkunft die entscheide­nden Dinge im Leben ähnlich sehen und dieselben Gefühle teilen. Erleben wir nicht alle die gleichen Freuden und Enttäuschu­ngen, den gleichen Schmerz und die Lust? Ich bin nur der, der versucht, sie niederzusc­hreiben.“„Hergestell­t in Berlin“hieß Album Nummer 13 (1985). Das gilt auch heute noch, jedoch mit einem Abstecher nach Belgien. In Kelmis, mitten im Dreiländer­eck, lebt Produzent Manfred Leuchter, mit dem er seit dem Live-Album „Die Große Tournee ’86“zusammenar­beitet. Mit Liebe zum Detail wählt Leuchter die Instrument­alisten aus und gibt im eigenen Studio den Songs ihr musikalisc­hes Kleid. Auf dem linken Auratone-Lautsprech­er wacht ein roter Bär, ein Geschenk von Hella und Reinhard Mey, über die Entstehung der Arrangemen­ts.

Leuchter setzt auf langjährig­e ReinhardMe­y-Sidemen wie die Gitarriste­n Ian Melrose und Jens Kommnick. „Wobei Reinhard Mey immer noch der beste Reinhard-MeyBegleit­er ist“, sagt der langjährig­e MeyFreund und lacht. Leuchter ist auch einer, der sich die Spielfreud­e nicht nehmen lässt. Als er eine Ukulele für den Song „Questo Tavolo Non Si Vende“brauchte, fuhr er kurzerhand nach Münster zu Götz Alsmann, ließ ihn das Instrument einspielen und versteckte so ein tolles Gimmick auf dem neuen Album. Doch damit nicht genug: Selten hat man derart viele kongeniale Geister wie Hannes Wader oder Konstantin Wecker auf einem ReinhardMe­y-Wek gefunden. Lange geplant oder ein schöner Zufall? „Lange gewünscht“, sagt Mey. „Es ist immer eine große Freude, in Liedern Gastgeber für liebe Freunde und Kollegen zu sein. Mit allen habe ich auch auf früheren Alben zusammen musiziert, mit Konstantin beim ‚Narrenschi­ff‘ und ‚Was keiner wagt‘, mit Götz im ‚Nasenmann‘. Und mit Hannes verbindet mich eine Lebensfreu­ndschaft von unserem ‚Untermiete­rzyklus‘ der 60er-Jahre über ‚Es ist an der Zeit‘ bis zu den ‚Zwei Musketiere­n‘ – ‚To Infinity And Beyond‘, wie Buzz Lightyear sagt.“

Der Traum vom Fliegen

Manfred Leuchter ist auch für die Orchestrie­rung zweier Titel verantwort­lich – mit dem Filmorches­ter Babelsberg nahm er das Meisterwer­k ‚Du kannst fliegen‘ (hier zitiert Reinhard Mey sein ‚Lilienthal­s Traum‘) und den Song ‚Schlendern‘ auf. Stichwort Fliegen: „ Ja. Es ist mein Kindertrau­m, der mich bis zum heutigen Tage begleitet. Das Fliegen durchaus als aerodynami­sches Wunder, aber ganz sicher nach vielen hundert Stunden am Steuer nun vor allem im übertragen­en Sinne. Fürs Booklet habe ich mir zu diesem Lied ein Foto ausgesucht, auf dem mich meine Frau erwischt hat, wie ich mich mit offenen Armen am Meeressaum gegen den Wind anstemme. ‚Breite die Flügel, du wirst sehen, du kannst fliegen, ja du kannst!‘ Ich glaube, ich kann es heute ohne die Flugmaschi­ne.“Das vorletzte Kapitel von „Nach Haus“spielt wieder in Berlin. Es geht an die Gesangsauf­nahmen, die unter den wachen Augen von Tonmeister Jörg Surrey und Produzent Leuchter entstehen. Surrey hat sein Studio im legendären Teldex (früher: Teldec; Telefunken/ Decca), einem der ältesten und renommiert­esten deutschen Studios. Die Schätze des Studiobetr­iebs werden im Tresor aufbewahrt – die Mikrofone. Hier fand sich ein wahrer Schatz: Das Telefunken U47, mit dem Mey einst sein „Achtel Lorbeerbla­tt“einsang. Keine Frage, dass dieses historisch­e Mey-Mikrofon auch bei den aktuellen Aufnahmen zum Einsatz kommt.

Mit vorgemisch­ten Songs im Gepäck geht es zurück nach Belgien. Hier nimmt sich Leuchter Zeit, noch einmal alles auf sich wirken zu lassen und den finalen Mix zu erstellen. Auch das Mastering macht er selbst: „Ich finde, es ist von Vorteil, wenn man von der ersten Note bis zum letzten Ton alles in der Hand hat“, erklärt der erfahrene Produzent. „Ich hatte das große Glück, dass ich Bernie Grundman und Howie Weinberg in Amerika über die Schulter schauen durfte. Und was ich da festgestel­lt habe: Zaubern tun die da auch nicht – die können nur ihren Job verdammt gut.“

Mey schließt sein 29. Studioalbu­m, das sein 60. Werk überhaupt ist, wenn man die Live-Alben dazuzählt, mit dem nachdenkli­chen „Nota Bene“. Und so drängt sich zum Abschied die Frage nach dem unerschütt­erlichen Optimismus Meys auf, den er in so vielen Songs zeigt. „Er ist ein Gottesgesc­henk, der hilft zu überleben. Ich verdanke ihm, dass trotz der steigenden Flut um uns herum das Fünkchen Hoffnung nicht erlischt, sondern weiter sanft glimmt und in der schwarzen Finsternis schimmert.“

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 ?? ?? Meister und Mikro: Reinhard Mey und sein geliebtes Mikrofon Telefunken U47.
Dreierpasc­h: (v.l.) Producer Manfred Leuchter, Reinhard Mey, Tonmeister Jörg Surrey. ✪ Ankomme Freitag, den 13. (1969), Keine ruhige Minute (1979)
Meister und Mikro: Reinhard Mey und sein geliebtes Mikrofon Telefunken U47. Dreierpasc­h: (v.l.) Producer Manfred Leuchter, Reinhard Mey, Tonmeister Jörg Surrey. ✪ Ankomme Freitag, den 13. (1969), Keine ruhige Minute (1979)

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