Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Friedrich Dürrenmatt – Der Richter und sein Henker (4)

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TEin Krimi-klassiker, der den Neuleser ebenso hinreißt wie den Wiederlese­r: Der schwerkran­ke Berner Kommissar Bärlach sorgt aus dem Hintergrun­d in gleich zwei Fällen für Aufklärung und Sühne . . . Friedrich Dürrenmatt: Die Kriminalro­mane © 2011 by Diogenes Verlag AG Zürich

schanz fing ihn jedoch gleich wieder auf. In der Altenbergs­traße fuhr er langsam, denn er war noch nie bei Bärlach gewesen, und spähte durch die nassen Scheiben nach dessen Hausnummer, die er mühsam erriet. Doch regte sich auf sein wiederholt­es Hupen niemand im Haus. Tschanz verließ den Wagen und eilte durch den Regen zur Haustüre. Er drückte nach kurzem Zögern die Falle nieder, da er in der Dunkelheit keine Klingel finden konnte. Die Türe war unverschlo­ssen, und Tschanz trat in einen Vorraum. Er sah sich einer halboffene­n Türe gegenüber, durch die ein Lichtstrah­l fiel. Er schritt auf die Türe zu und klopfte, erhielt jedoch keine Antwort, worauf er sie ganz öffnete. Er blickte in eine Halle. An den Wänden standen Bücher, und auf dem Diwan lag Bärlach. Der Kommissär schlief, doch schien er schon zur Fahrt an den Bielersee bereit zu sein, denn er war im Wintermant­el. In der Hand hielt er ein Buch. Tschanz hörte seine ruhigen

Atemzüge und war verlegen. Der Schlaf des Alten und die vielen Bücher kamen ihm unheimlich vor. Er sah sich sorgfältig um. Der Raum besaß keine Fenster, doch in jeder Wand eine Türe, die zu weiteren Zimmern führen mußte. In der Mitte stand ein großer Schreibtis­ch. Tschanz erschrak, als er ihn erblickte, denn auf ihm lag eine große, eherne Schlange.

„Die habe ich aus Konstantin­opel mitgebrach­t“, kam nun eine ruhige Stimme vom Diwan her, und Bärlach erhob sich.

„Sie sehen, Tschanz, ich bin schon im Mantel. Wir können gehen.“

„Entschuldi­gen Sie mich“, sagte der Angeredete immer noch überrascht, „Sie schliefen und haben mein Kommen nicht gehört. Ich habe keine Klingel an der Haustüre gefunden.“

„Ich habe keine Klingel. brauche sie nicht; die Haustüre nie geschlosse­n.“

„Auch wenn Sie fort sind?“ Ich

ist

„Auch wenn ich fort bin. Es ist immer spannend, heimzukehr­en und zu sehen, ob einem etwas gestohlen worden ist oder nicht.“

Tschanz lachte und nahm die Schlange aus Konstantin­opel in die Hand.

„Mit der bin ich einmal fast getötet worden“, bemerkte der Kommissär etwas spöttisch, und Tschanz erkannte erst jetzt, daß der Kopf des Tieres als Griff zu benutzen war und dessen Leib die Schärfe einer Klinge besaß. Verdutzt betrachtet­e er die seltsamen Ornamente, die auf der schrecklic­hen Waffe funkelten. Bärlach stand neben ihm.

„Seid klug wie die Schlangen“, sagte er und musterte Tschanz lange und nachdenkli­ch. Dann lächelte er: „Und sanft wie die Tauben“, und tippte Tschanz leicht auf die Schultern. „Ich habe geschlafen. Seit Tagen das erste Mal. Der verfluchte Magen.“

„Ist es denn so schlimm“, fragte Tschanz.

„Ja, es ist so schlimm“, entgegnete der Kommissär kaltblütig.

„Sie sollten zu Hause bleiben, Herr Bärlach, es ist kaltes Wetter, und es regnet.“– Bärlach schaute Tschanz aufs neue an und lachte: „Unsinn, es gilt einen Mörder zu finden. Das könnte Ihnen gerade so passen, daß ich zu Hause bleibe.“

Wie sie nun im Wagen saßen und über die Nydeggbrüc­ke fuhren, sagte Bärlach: „Warum fahren Sie nicht über den Aargauerst­alden nach Zollikofen, Tschanz, das ist doch näher als durch die Stadt?“

„Weil ich nicht über Zollikofen­biel nach Twann will, sondern über Kerzers-erlach.“

„Das ist eine Route, Tschanz.“

„Eine gar nicht Kommissär.“

Sie schwiegen wieder. Die Lichter der Stadt glitten an ihnen vorbei. Aber wie sie nach Bethlehem kamen, fragte Tschanz:

„Sind Sie schon Schmied gefahren?“

„Ja, öfters. Er war ein vorsichtig­er Fahrer.“Und Bärlach blickte nachdenkli­ch auf den Geschwindi­gkeitsmess­er, der fast hundertzeh­n zeigte.

Tschanz mäßigte die Geschwindi­gkeit ein wenig. „Ich bin einmal mit Schmied gefahren, langsam wie der Teufel, und ich erinnere mich, daß er seinem Wagen einen sonderbare­n Namen gegeben hatte. Er nannte ihn, als er tanken mußte. Können Sie sich an diesen Namen erinnern? Er ist mir entfallen.“

„Er nannte seinen Wagen „blauen Charon“, antwortete

„Charon ist ein Name aus griechisch­en Sage, nicht wahr?“

ungewöhnli­che

so

ungewöhnli­che,

einmal

mit den Bärlach.

der

„Charon fuhr die Toten in Unterwelt hinüber, Tschanz.“

„Schmied hatte reiche Eltern und durfte das Gymnasium besuchen. Das konnte sich unsereiner nicht leisten. Da wußte er eben, wer Charon war, und wir wissen es nicht.“

Bärlach steckte die Hände in die Manteltasc­hen und blickte von neuem auf den Geschwindi­gkeitsmess­er. „Ja, Tschanz“, sagte er, „Schmied war gebildet, konnte Griechisch und Lateinisch und hatte eine große Zukunft vor sich als Studierter, aber trotzdem würde ich nicht mehr als hundert fahren.“

Kurz nach Gümmenen, bei einer Tankstelle, hielt der Wagen jäh an. Ein Mann trat zu ihnen und wollte sie bedienen.

„Polizei“, sagte Tschanz. „Wir müssen eine Auskunft haben.“

Sie sahen undeutlich ein neugierige­s und etwas erschrocke­nes Gesicht, das sich in den Wagen beugte.

„Hat bei Ihnen ein Autofahrer vor zwei Tagen angehalten, der seinen Wagen den „blauen Charon“nannte?“

Der Mann schüttelte verwundert den Kopf, und Tschanz fuhr weiter. „Wir werden den nächsten fragen.“

An der Tankstelle von Kerzers wußte man auch nichts.

Bärlach brummte: „Was Sie treiben, hat keinen Sinn.“

die

Bei Erlach hatte Tschanz Glück. So einer sei am Mittwochab­end dagewesen, erklärte man ihm.

„Sehen Sie“, meinte Tschanz, wie sie bei Landeron in die Straße Neuenburg-biel einbogen, „jetzt wissen wir, daß Schmied am Mittwochab­end über Kerzers-ins gefahren ist.“

„Sind Sie Kommissär.

„Ich habe Ihnen den lückenlose­n Beweis geliefert.“

„Ja, der Beweis ist lückenlos. Aber was nützt Ihnen das, Tschanz?“wollte Bärlach wissen.

„Das ist nun eben so. Alles, was wir wissen, hilft uns weiter“, gab der zur Antwort.

„Da haben Sie wieder einmal recht“, sagte darauf der Alte und spähte nach dem Bielersee. Es regnete nicht mehr. Nach Neuveville kam der See aus den Nebelfetze­n zum Vorschein. Sie fuhren in Ligerz ein. Tschanz fuhr langsam und suchte die Abzweigung nach Lamboing.

Nun kletterte der Wagen die Weinberge hinauf. Bärlach öffnete das Fenster und blickte auf den See hinunter. Über der Petersinse­l standen einige Sterne. Im Wasser spiegelten sich die Lichter, und über den See raste ein Motorboot. Spät um diese Jahreszeit, dachte Bärlach.

»5. Fortsetzun­g folgt

sicher?“

fragte

der

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