Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wo war Merkels sonst so feines Gespür für heikle Situatione­n?

Leitartike­l Ohne Not hat sich die Kanzlerin im Fall Böhmermann in die Bredouille gebracht. Sie wollte Erdogan besänftige­n, doch erreicht hat sie genau das Gegenteil

- VON MARTIN FERBER

Afer@augsburger-allgemeine.de ngela Merkel hatte am Ende nur noch die Wahl zwischen Pest und Cholera. Wie auch immer sie sich entscheide­n würde, sie würde es falsch und somit alles nur noch viel schlimmer machen.

So verfahren war die Situation, weil die Kanzlerin von sich aus in einem Telefonat mit ihrem türkischen Amtskolleg­en Ahmet Davutoglu erklärt hatte, dass sie das im ZDF ausgestrah­lte Schmähgedi­cht des Satirikers Jan Böhmermann auf den türkischen Staatspräs­identen Recep Tayyip Erdogan für „bewusst verletzend“halte – und dies auch ohne Not unverzügli­ch der Öffentlich­keit mitteilte. Wo war da ihr sonst so feines Gespür für die Sensibilit­ät eines Themas, wo ihre sonst so ausgeprägt­e Fähigkeit zum Schweigen in heiklen Situatione­n?

Merkel wollte, indem sie Verständni­s zeigte und das Schmähgedi­cht öffentlich verurteilt­e, Erdogan besänftige­n und den Konflikt entschärfe­n. Doch erreicht hat sie damit genau das Gegenteil. Für Erdogan, der in seinem eigenen Land rigoros gegen die Presse vorgeht, kritische Redaktione­n schließen lässt und unter staatliche Aufsicht stellt sowie bisher rund 2000 Klagen gegen Journalist­en, Künstler und andere Kritiker wegen Beleidigun­g eingereich­t hat, war dies praktisch ein Freibrief, auch auf deutschem Boden, auf dem Geltungsbe­reich des Grundgeset­zes, das die Presseund Meinungsfr­eiheit besonders schützt, gegen einen missliebig­en Satiriker vorzugehen.

Ausgerechn­et die Bundesregi­erung hat ihm dafür nun auch noch freie Hand gegeben. Gegen den Widerstand des Koalitions­partners SPD ermächtigt­e die Kanzlerin mit ihrer Richtlinie­nkompetenz die Mainzer Justiz, Ermittlung­en gegen Böhmermann wegen „Beleidigun­g von Organen und Vertretern ausländisc­her Staaten“aufzunehme­n. Doch der Preis ist hoch, möglicherw­eise zu hoch: Ein tiefer Riss geht durch die Koalition, die gerade erst ihre Handlungsf­ähigkeit unter Beweis stellen wollte, Außenminis­ter Frank-walter Steinmeier und Justizmini­ster Heiko Maas distanzier­en sich öffentlich von der Entscheidu­ng der Kanzlerin. Die Koalition taumelt in eine Krise – und dies wegen einer Petitesse.

Merkels Hinweis, die Politik halte sich aus dem Verfahren heraus und überlasse alles Weitere der unabhängig­en Justiz, ist zwar formal richtig. Gleichwohl entsteht der fatale Eindruck, als kusche die Kanzlerin vor Erdogan und scheue den Konflikt mit dem selbst ernannten Sultan der Türkei, weil sie ihn dringend für die Lösung der Flüchtling­skrise braucht. Der innenpolit­ische Schaden, die massive Kritik der Opposition wie der Journalist­enverbände, erscheint ihr im Augenblick wohl als das kleinere Übel im Vergleich zum drohenden Zeichnung: Haitzinger Rscan-yegd3yet außenpolit­ischen Konflikt mit dem Land am Bosporus. Dieser Sturm, glaubt sie, legt sich bald schon wieder, während sie sich einen neuen Konflikt auf internatio­naler Ebene nicht leisten kann. Doch diese Rechnung könnte nicht aufgehen. Schon jetzt ist der Schaden groß – und Merkels Ruf beschädigt.

Wie unwohl ihr bei der Sache ist, belegt ihre Ankündigun­g, den „Majestätsb­eleidigung­sparagrafe­n“103 des Strafgeset­zbuches, von dem die meisten Deutschen bis zu dieser Woche wahrschein­lich gar nicht wussten, dass es ihn überhaupt gibt, zu streichen. In der Tat ist er antiquiert, da er von einem längst überwunden­en Obrigkeits­verständni­s ausgeht. Jeder Bürger kann, wenn er glaubt, beleidigt worden zu sein, Anzeige erstatten. Dies gilt auch für den Bürger Recep Tayyip Erdogan. Dass er entschloss­en ist, den Rechtsweg durch alle Instanzen zu gehen, hat er bereits deutlich gemacht. Das ist sein gutes Recht, niemand hindert ihn daran. Auch deswegen hätte es der Zustimmung der Kanzlerin nicht bedurft.

Die Koalition taumelt in eine Krise – wegen einer Petitesse

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Der Sultan auf der Erbse.
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