Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Wo war Merkels sonst so feines Gespür für heikle Situationen?
Leitartikel Ohne Not hat sich die Kanzlerin im Fall Böhmermann in die Bredouille gebracht. Sie wollte Erdogan besänftigen, doch erreicht hat sie genau das Gegenteil
Afer@augsburger-allgemeine.de ngela Merkel hatte am Ende nur noch die Wahl zwischen Pest und Cholera. Wie auch immer sie sich entscheiden würde, sie würde es falsch und somit alles nur noch viel schlimmer machen.
So verfahren war die Situation, weil die Kanzlerin von sich aus in einem Telefonat mit ihrem türkischen Amtskollegen Ahmet Davutoglu erklärt hatte, dass sie das im ZDF ausgestrahlte Schmähgedicht des Satirikers Jan Böhmermann auf den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan für „bewusst verletzend“halte – und dies auch ohne Not unverzüglich der Öffentlichkeit mitteilte. Wo war da ihr sonst so feines Gespür für die Sensibilität eines Themas, wo ihre sonst so ausgeprägte Fähigkeit zum Schweigen in heiklen Situationen?
Merkel wollte, indem sie Verständnis zeigte und das Schmähgedicht öffentlich verurteilte, Erdogan besänftigen und den Konflikt entschärfen. Doch erreicht hat sie damit genau das Gegenteil. Für Erdogan, der in seinem eigenen Land rigoros gegen die Presse vorgeht, kritische Redaktionen schließen lässt und unter staatliche Aufsicht stellt sowie bisher rund 2000 Klagen gegen Journalisten, Künstler und andere Kritiker wegen Beleidigung eingereicht hat, war dies praktisch ein Freibrief, auch auf deutschem Boden, auf dem Geltungsbereich des Grundgesetzes, das die Presseund Meinungsfreiheit besonders schützt, gegen einen missliebigen Satiriker vorzugehen.
Ausgerechnet die Bundesregierung hat ihm dafür nun auch noch freie Hand gegeben. Gegen den Widerstand des Koalitionspartners SPD ermächtigte die Kanzlerin mit ihrer Richtlinienkompetenz die Mainzer Justiz, Ermittlungen gegen Böhmermann wegen „Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten“aufzunehmen. Doch der Preis ist hoch, möglicherweise zu hoch: Ein tiefer Riss geht durch die Koalition, die gerade erst ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen wollte, Außenminister Frank-walter Steinmeier und Justizminister Heiko Maas distanzieren sich öffentlich von der Entscheidung der Kanzlerin. Die Koalition taumelt in eine Krise – und dies wegen einer Petitesse.
Merkels Hinweis, die Politik halte sich aus dem Verfahren heraus und überlasse alles Weitere der unabhängigen Justiz, ist zwar formal richtig. Gleichwohl entsteht der fatale Eindruck, als kusche die Kanzlerin vor Erdogan und scheue den Konflikt mit dem selbst ernannten Sultan der Türkei, weil sie ihn dringend für die Lösung der Flüchtlingskrise braucht. Der innenpolitische Schaden, die massive Kritik der Opposition wie der Journalistenverbände, erscheint ihr im Augenblick wohl als das kleinere Übel im Vergleich zum drohenden Zeichnung: Haitzinger Rscan-yegd3yet außenpolitischen Konflikt mit dem Land am Bosporus. Dieser Sturm, glaubt sie, legt sich bald schon wieder, während sie sich einen neuen Konflikt auf internationaler Ebene nicht leisten kann. Doch diese Rechnung könnte nicht aufgehen. Schon jetzt ist der Schaden groß – und Merkels Ruf beschädigt.
Wie unwohl ihr bei der Sache ist, belegt ihre Ankündigung, den „Majestätsbeleidigungsparagrafen“103 des Strafgesetzbuches, von dem die meisten Deutschen bis zu dieser Woche wahrscheinlich gar nicht wussten, dass es ihn überhaupt gibt, zu streichen. In der Tat ist er antiquiert, da er von einem längst überwundenen Obrigkeitsverständnis ausgeht. Jeder Bürger kann, wenn er glaubt, beleidigt worden zu sein, Anzeige erstatten. Dies gilt auch für den Bürger Recep Tayyip Erdogan. Dass er entschlossen ist, den Rechtsweg durch alle Instanzen zu gehen, hat er bereits deutlich gemacht. Das ist sein gutes Recht, niemand hindert ihn daran. Auch deswegen hätte es der Zustimmung der Kanzlerin nicht bedurft.
Die Koalition taumelt in eine Krise – wegen einer Petitesse