Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Ein Schlosser will die Ukraine reformieren
Porträt Wladimir Groisman ist neuer Regierungschef. Nun muss sich zeigen, ob der 38-Jährige mehr ist als eine Marionette des Präsidenten Petro Poroschenko
Der Mann kann zupacken. Das lernt der kleine Wladimir schon als Teenager: Mit 14 Jahren beginnt er als Schlosser in einem Kleinbetrieb in seiner westukrainischen Geburtsstadt Winnyzja. Das allein wäre nicht ungewöhnlich. Doch dass der Sohn jüdischer Eltern mit 16 ein eigenes Gewerbe anmeldet, ist auch für die wilde postsowjetische Umbruchzeit bemerkenswert – aber nur ein erster Schritt. 22 Jahre später wird Wladimir Groisman zum ukrainischen Regierungschef gewählt.
In den Jahren dazwischen hat Groisman seine Karriere mit viel Elan vorangetrieben. Der Schlosserwerkstatt kehrt er bald den Rücken. Nach einem Jurastudium und der Verwaltungsakademie geht er in die Lokalpolitik. Als Bürgermeister von Winnyzja beweist er, dass er in der Lage ist, eine Großstadt mit über 360 000 Einwohnern zu regieren. Er realisiert ehrgeizige Wohnungsbauprojekte und treibt die Modernisierung der Infrastruktur voran. Die Bürger danken es ihm, als sie ihn nach seiner ersten Amtszeit mit einem Traumergebnis von fast 80 Prozent wiederwählen.
Doch es gibt auch hartnäckige Gerüchte, dass er immer ein offenes Ohr für Verwandte und Bekannte hat, die sich durch ihr enges Verhältnis zum Bürgermeister Vorteile erhoffen. Kenner der Ukraine wissen allerdings längst, dass derartige Vorwürfe in der Regel nicht ausreichen, politische Karrieren zu zerstören. Trotz der Gerüchte, sich der Vetternwirtschaft schuldig gemacht zu haben, wird Groisman 2014 zum Parlamentspräsidenten gewählt. Kein Zufall, dass er in den ersten Tagen seiner Amtszeit immer wieder demonstrativ beteuert, resolut gegen Korruption, aber für Reformen kämpfen zu wollen. Genau dies erwartet der Westen mit wachsender Ungeduld von der Regierung in Kiew. Nicht nur in der Ukraine wird nun genau beobachtet werden, ob der neue Ministerpräsident nur eine Marionette des Präsidenten Petro Poroschenko, dessen Partei er angehört, sein wird. Die Versuchung für Groisman, eigene Akzente zu setzen, dürfte umso größer werden, je mehr die Zweifel an der Reformbereitschaft des Oligarchen Poroschenko in der Bevölkerung wachsen.
Ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein kann man dem Mann mit dem Bürstenhaarschnitt sicher nicht absprechen. Er wird es brauchen: Schließlich durchleidet das Land eine tiefe Wirtschaftskrise, während parallel dazu die Kämpfe in der Ostukraine jederzeit wieder eskalieren können.
Die Verfechter eines traditionellen Familienbildes im Land müssen jedenfalls nicht fürchten, dass der verheiratete Vater dreier Kinder auf diesem Feld neue Signale setzt: Wladimir Groisman hat sich beeilt, der Gleichstellung von Homosexuellen eine unmissverständliche Absage zu erteilen: „Homo-ehen sind in der Ukraine nicht möglich“, ließ er wissen. Simon Kaminski